LEBENS_WEISE
Demenz betrifft das ganze Umfeld

Miteinander beten und singen kann Demenzkranke stärken.  | Foto: Franz Litzlbauer
  • Miteinander beten und singen kann Demenzkranke stärken.
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Unsere Gesellschaft wird älter. Selten ist das lange Leben bis zuletzt gesund. Demenz ist eine der häufigsten Erkrankungen bei alten Menschen – eine Herausforderung auch für die Angehörigen.

In Österreich leben derzeit laut aktuellen Schätzungen circa 130.000 Menschen mit Demenz. Bis 2025 sollen es mit der steigenden Lebenserwartung doppelt so viele sein. Es gibt verschiedene Formen, wie diese „Vergesslichkeit“ auftreten kann, aber eines ist für alle gleich: Erkrankte verlieren sich immer mehr, wie es Hildegard Nachum in ihrem Buch „Die Weisheit der Demenz“ beschreibt. Sie arbeitet seit Jahren mit alten Menschen und ist in der Ausbildung für Pflegekräfte tätig. Sie plädiert dafür, einfühlsam mit diesen Menschen umzugehen und auf sie einzugehen.

PROBLEME VERSTECKEN
Die häufigste Form von Demenz ist Alzheimer. Die Ursache dafür ist zwar genetisch veranlagt, aber unsere Lebensweise mit Nahrungsüberfluss und Stress begünstigt das Auftreten. Umgekehrt gilt: Eine gesunde Lebensweise kann Demenz hinauszögern.

Betroffene versuchen erst, ihre Probleme zu verstecken und zu verleugnen. Das ist anstrengend! Es hilft nicht, sie zurechtzuweisen oder zu korrigieren.

Oft treten auch gesundheitliche Veränderungen auf: Schlafstörungen, depressive Phasen und sprachliche Veränderungen. Der Übergang vom „normalen“ Vergessen zu Demenz ist fließend.

TAGEBUCH FÜHREN
Die Pflege beginnt mit leichter Unterstützung etwa beim Einkaufen, der Medikamenteneinnahme oder beim Erinnern an Termine. Angehörige, die mit Betroffenen zusammenwohnen, merken die Veränderung als erste.

Für die Diagnose werden Testgespräche durchgeführt, die auch kritisch betrachtet werden. Sie sind immer eine Prüfungssituation. Menschen mit guter Allgemeinbildung schneiden besser ab, und Lese- und Rechenschwächen werden nicht berücksichtigt.

Die Empfehlung von Hildegard Nachum lautet daher, dass die Angehörigen ein Tagebuch führen könnten. Oft ist auch ein Infekt, eine Schilddrüsenerkrankung oder Vitamin- oder Flüssigkeitsmangel Ursache für geistige Probleme. Wenn jemand beim Gehen stehen bleibt, um eine Frage zu beantwortet, kann das ein Hinweis auf Demenz sein, denn Betroffene können nicht zwei Dinge gleichzeitig erledigen.

Bei einer zeitigen Diagnose kann man das Fortschreiten der Demenz hinauszögern: einerseits durch kognitives Training, andererseits medikamentös.

Die Diagnose Demenz betrifft nicht nur den einzelnen Menschen, sondern die ganze Familie: Bei Anna* und Ernst* wollte die (Schwieger-)Mutter selbst zur Untersuchung, weil die Vergesslichkeit sie belastet hat. „Die Diagnose Alzheimer war schlimm, aber dann kommt man drauf, dass sie ja nicht anders war“, erinnern sich die beiden. „Sie war nur vergesslich!“ Sie haben vieles geregelt und besprochen, etwa wie die Mutter gepflegt werden möchte, wenn das nötig sein würde. Vor allem Anna hat viel über die Krankheit gelesen.

Das ist auch eine Empfehlung für Angehörige: sich zu informieren, was Demenz bedeutet, wie sie für Betroffene und sich selbst Unterstützung finden können.

LOSLASSEN
Der Besuch einer Beratungsstelle hat Anna, Ernst und der Mutter nicht geholfen. „Wir sind gefragt worden, was Mutti noch alles kann“, erzählen sie. Die Beraterinnen haben bei jeder Antwort gemeint: „Ah, das kann sie eh noch!“, und so ist ihnen erst bewusst geworden, was auf sie zukommen würde. Die Mutter hat sich in einer Tagesbetreuung, die sie dreimal in der Woche besuchte, sehr wohl gefühlt, sie war auch früher immer gern in Gesellschaft. Die Verluste zuvor – Besuche von und bei Bekannten, Autofahren etc. – haben eine Zeit der Depression verursacht.

Anna und Ernst konnten die Mutter gut unterstützen, weil Ernst selbstständig und zu Hause gearbeitet hat. Als sie wiederholt den Wasserkocher auf die Herdplatte gestellt und diese eingeschaltet hat, hat sie die beiden gebeten, sie ins Seniorenheim zu bringen. Sie wollte ihrem Sohn und der Schwiegertochter nicht zur Last fallen. Als Anna sie am nächsten Tag besuch te, bedankte sich die Schwiegermutter bei ihr dafü r, dass sie sie hergebracht hatte. Ihr fiel sichtlich die Sorge vom Herzen, sie könn te etwas vergessen. Anna und Ernst haben bewundert, wie sie loslassen konnte von ihren Pflichten und Aufgaben mit Wohnung und Gemüsegarten. Sie denken, dass die Mutter noch fit genug war, sich im Seniorenheim gut einzuleben.

SCHUTZ, TROST, PLATZ
Hildegard Nachum sagt, dass Menschen mit Demenz in dieser neuen Lebensrolle Trost, Schutz und einen Platz brauchen. „Heimgehen“ möchten Demenzkranke meist, wenn sie Geborgenheit suchen. Man sollte sie dann nicht berühren, denn das kann Angst hervorrufen und den Drang, sich vehement zu wehren. Es könnte helfen, ein Stück mitzugehen und den Weg retour zu lenken, vielleicht begleitet von einem Lied. Ein konkreter Tipp von Hildegard Nachum: Beim Abschied die Wörter „kommen“ oder „gehen“ vermeiden und stattdessen sagen: „Ich schau wieder weiter“ oder „Ich schau wieder vorbei.“

Man kann Betroffene dabei unterstützen, die Identität zu bewahren und „den roten Lebensfaden“ zu behalten. Manches Verhalten in einer späteren Phase der Demenz hat seinen Ursprung in früheren Lebensjahren. Wenn jemand von früher erzählt, können Angehörige nachfragen, wie etwas war, was schön war, was schlimm. Bei allen Menschen baut sich Stress ab, wenn sie das Gefühl haben, verstanden zu werden. Helfen kann zum Beispiel miteinander beten oder singen oder ein symbolischer Gegenstand. Bis zuletzt ist es hilfreich, einfühlsame Menschen bei sich zu haben.

JUDITH MOSER-HOFSTADLER

*Namen geändert

Weiterführende Links:
www.demenzstrategie.at
www.nachum.at
www.alzheimerhilfe.at

BUCHTIPP
Hildegard Nachum , Die Weisheit der Demenz. Wegweiser zum würdevollen Umgang mit desorientierten Menschen, 224 S., Kneipp Verlag, Wien-Graz, 2022

Autor:

martinus Redaktion aus Burgenland | martinus

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