Ein Zwischenruf aus ethischer Sicht von Prof. Martin M. Lintner
Konflikt um Wolf und Bär
Ist ein Zusammenleben von Bär und Wolf in Tirol möglich? Eine Frage, die zur Zeit viele beschäftigt. Prof. Martin M. Lintner (Brixen) versucht einen Zugang aus ethischer Sicht. Ein Zwischenruf.
Das Bärengehege bei Sankt Romedius im Nonstal im Trentino ist ein Magnet für Wallfahrer und Touristen, besonders für Kinder. Es erinnert an die Legende, dass der hl. Romedius von Thaur einen Bären, der sein Pferd gerissen hatte, kurzerhand dazu verdonnert hat, ihm anstelle des Pferdes als Lasttier zu dienen. Um das Leben des hl. Korbinian rankt sich eine ähnliche Legende. Und der hl. Franz von Assisi soll einen Wolf, der den Bewohnern von Gubbio das Leben schwer gemacht hat, gerügt und gezähmt haben. Bloß fromme Legenden? Weltfremde Naturromantik? Oder Ausdruck der Sehnsucht nach Frieden zwischen Mensch und Tier? Zeugnisse für das jahrhundertelange, wenn auch nie konfliktfreie Auskommen mit den wilden Tieren?
Nie problemlos. Wolf und Bär polarisieren nicht erst heute. Es sind Großraubwildtiere, die uns mit der Natur konfrontieren, die stärker ist als wir und die uns nicht immer nur freundlich gesinnt ist, sondern auch bedrohlich und gefährlich sein kann. Viele Jahrhunderte lang lebten die Menschen im Alpenraum mit Wolf und Bär. Deren Präsenz war wohl nie problemlos, aber auch nie existenzgefährdend für die vorwiegend bäuerliche Bevölkerung. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden Bär und Wolf bei uns ausgerottet. Mehrere Faktoren haben dazu geführt: die neuzeitlich-moderne Vorstellung der beherrschbaren und zu bezwingenden Natur; das Selbstverständnis des Menschen, der sich nicht mehr als Teil der Natur verstanden hat, sondern als ihr gegenüberstehend mit der Berechtigung, sie den eigenen Interessen zu unterwerfen; die Verbreitung volkstümlicher Märchen durch die Gebrüder Grimm, in denen der Wolf systematisch als Symbol des Bösen dargestellt wurde, auch wenn der Wolf zugleich Projektionsfläche einer romantischen Naturmystik blieb; schließlich die Ausbreitung des ursprünglich adeligen Jagdwesens, für das Wolf und Bär direkte Konkurrenten darstellten, und die Entwicklung von immer präziseren Jagdwaffen, die das Kräfteverhältnis zwischen Mensch und Tier zugunsten des Menschen verschoben.
Ist die Natur zu bändigen? Seither haben sich sowohl die Landwirtschaft als auch das gesellschaftliche Leben tiefgreifend verändert, nicht zuletzt durch die Erschließung und Nutzung fast aller Regionen von den Talsohlen bis in die hochalpinen Regionen. Durch Trockenlegungen, Flussbegradigungen, Wildbachverbauungen, Lawinenschutz usw. haben wir versucht, die Natur zu bändigen und immer intensiver zu nutzen. Immer weniger Bauern müssen für eine immer größere Bevölkerung Nahrungsmittel produzieren. Eine wachsende Zahl von Bergbauern kann ihre Höfe nur im Nebenerwerb fortführen. Zudem hat sich die hiesige Bevölkerung – im Unterschied zu den meisten Regionen der Welt – daran gewöhnt, nicht mehr von Wildtieren bedroht zu werden.
Testfall. Es gibt mittlerweile aber auch ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass wir als moderne Gesellschaft unsere Beziehung zu Natur, Umwelt und Tieren neu bedenken müssen. Auf regionaler wie globaler Ebene betreiben wir mit den modernen Wirtschaftssystemen und der intensiven Landwirtschaft Raubbau an der Natur und beschleunigen den globalen Klimawandel, der die Welt als Lebensraum für immer mehr Menschen, aber auch Tier- und Pflanzenarten bedroht. Der Druck einer ökologischen Neuausrichtung nimmt sowohl auf die Obst- als auch auf die Berglandwirtschaft zu. Es wird nicht nur die Produktion gesunder Lebensmittel gefordert, sondern auch die Pflege und Erhaltung der Landschaft, die auch dann, wenn sie im Privatbesitz ist, als Lebens- und Erholungsraum insgesamt ein öffentliches Gut darstellt, das unser Land auszeichnet. Besonders werden Formen von Land- und Forstwirtschaft verlangt, die ökologisch nachhaltig sind und Artenvielfalt und Umwelt schützen. Ob wir den Konflikt um Bär und Wolf bewältigen, kann auch als Testfall angesehen werden, ob wir den Herausforderungen des Klimawandels mit all seinen Folgen auch in unseren Breitengraden gewachsen sein werden. Klimaschutz, Schutz der Biodiversität (zu denen Wolf und Bär gehören) und Öko-logisierung der Landwirtschaft sind unterschiedliche Facetten ein und derselben Problematik.
Verhärtete Fronten. In den aktuellen Debatten zu Bär und Wolf stehen sich zwei Positionen unversöhnlich gegenüber: auf der einen Seite extreme Tierschützer (sie stehen nicht für die Mehrheit der Tierschützer), für die ein Abschuss eines Großraubwilds unter keinen Umständen in Frage kommt; auf der anderen Seite Vertreter der Berglandwirtschaft und zunehmend auch des Tourismus, die vehement eine wolfsfreie Region verlangen: „Bei uns gibt es keinen Platz für Bär und Wolf“, lautet die Devise. Leidtragende dieser verhärteten Fronten und des seit Jahren ungelösten Problems sind in erster Linie die Bauern, die Nutztierrisse zu beklagen haben und die angesichts fehlender Lösungsperspektiven verständlicherweise verunsichert sind. Wobei zu bedenken bleibt, dass rein statistisch das Großraubwild bei Weitem nicht die Hauptursache der jährlichen Verluste an Nutztieren darstellt.
Vermeiden von Leid und Schmerz. Beide Extrempositionen und Verweigerungshaltungen sind zu überwinden. Es gilt schlicht, sich der Realität zu stellen. Ich plädiere für eine sachliche, wissenschaftsbasierte Diskussion, die den Tierschutz umfassend in den Blick nimmt – im Sinne des Vermeidens von Leid, Schmerz und Angst eines jeden (!) Tieres. Allerdings ist aus ethischer Perspektive zu differenzieren zwischen dem Leid, das Beutegreifer den Beutetieren zufügen, wofür Tieren keine moralische Verantwortung zugeschrieben werden kann, und dem Tierleid, das der Mensch in der Tierhaltung und Fleischindustrie ethisch zu verantworten hat.
Debatte braucht breiten Kontext. Leidverhinderung inkludiert, alle Möglichkeiten von Herdenschutz konsequent und langfristig umzusetzen, trotz Rückschlägen und auch wenn sie keinen absoluten Schutz vor Rissen bieten. Das know how nimmt jedoch kontinuierlich zu und die finanziellen Ressourcen seitens der EU stehen bereit. Es bedarf zugleich aber auch einer dem konkreten Bestand angepassten Regulierung von geschützten Arten und einer diesbezüglichen Auslegung bzw. Adaptierung der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der EU. Die Debatte um Bär und Wolf muss meines Erachtens aber auch im breiteren Kontext der aufgezeigten gesellschaftlichen Entwicklungen verortet werden, die insgesamt eine Neubewertung unserer Beziehung zur Natur, Umwelt und den Nutz- wie Wildtieren erfordern.
Martin M. Lintner ist Professor für Moraltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen (Südtirol).
Der Mensch und das liebe Vieh – Ethische Fragen im Umgang mit Tieren
Unsere bisherigen ökonomischen und politischen Wege stellen kommende Generationen vor massive Herausforderungen. In der Enzyklika "Laudato Si" prangert Papst Franziskus die Folgen kapitalistischen Lebens an. Was haben diese Probleme mit uns Christinnen und Christen zu tun?
Antworten gibt es im Gespräch von Angelika Stegmayr im mit Prof. Dr. Martin M. Lintner.
Montag, 5.7.2021, 20.15 Uhr; Link: https://www.youtube.com/watch?v=VQJ837deMlQ
Autor:TIROLER Sonntag Redaktion aus Tirol | TIROLER Sonntag |
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