Paralympics-Sportler Thomas Geierspichler
„Ich strebe nach Heilung“

"Kleine Zeitung"-Chefredakteur Patterer im Interview mit Paralympics-Sportler Thomas Geierspichler. | Foto: Neumayr
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Vor 30 Jahren wurde er unverschuldet aus seinem unbeschwerten Leben gerissen. Paralympics-Sportler Thomas Geierspichler über die Kraft der Hoffnung, seinen Glauben und das Streben nach Heilung.

Interview: Hubert Patterer

Wir reden über die Hoffnung, die vielleicht wichtigste geistige Ressource in diesen Zeiten. Wie geht das, hoffen? Kann man das lernen, trainieren?
Hoffnung trainieren, das ist nicht mein Ding. Das klingt mir zu sehr nach Mentaltrai­ ner. Der bin ich nicht.

Sie halten seit vielen Jahren Vorträge im Land. Was ist Ihre Botschaft?
Ich erzähle mein Leben, manchmal in ernstem Ton und dann wieder ironisch gebro­ chen oder mit einem Schuss Sarkasmus. Der Abstand hilft. Ich erzähle meine Geschichte als Ermutigung und Parabel, dass es egal ist, wie ausweglos eine Situation scheint, dass ein Schicksalsschlag nie das Ende der Fahnen­ stange ist. Dass es immer einen Ausweg gibt, auch wenn die Umstände, in meinem Fall dieQuerschnittslähmung, unabänderlich sind. Dass innerhalb des Gegebenen, so eng der Rahmen auch sein mag, Möglichkeitsräume auf einen warten. Man muss sie nur wahr­ nehmen, für sie offen sein. Es erfordert Mut und Entschlossenheit. Dazu will ich die Leute ermuntern.

Was hilft?
Mir half der Glaube, aber ich bin kein Pre­diger. Ich will meinen Glauben niemandem aufbinden. Man muss seine Rucksäcke, in die man seine ganzen Ängste und Verzagtheiten gestopft hat, ausleeren. Der Rucksack muss leer sein. Und dann hilft es, sich die Endlich­ keit bewusst zu machen. Ich denke mein Leben vom Ende her, ganz konkret und bild­lich vom Sterbebett her, und von dieser imagi­nierten Perspektive blicke ich zurück auf meine jetzige Situation. Dann spüre ich eine Dringlichkeit, das, was mir wichtig ist, bewusster zu leben. Man soll keinen Stress bekommen, aber es hilft mir, Entscheidungen entschlossener und rascher zu treffen. Es geht dabei nicht immer nur um Spaß, es geht um die Essenz. Es geht darum, seinen Weg zu finden, sein Navi, seinen Kompass.

Wie reagieren die Leute?
Das Schönste, was mir einmal eine Frau gesagt hat, war das Einbekenntnis, dass sie seit drei Jahren zum Psychotherapeuten gehe und sich die Verknotung nach dem Vortrag aufgelöst habe, dass sie eine Antwort auf ihre Situation bekommen habe. Es gehe um Auf­ geschobenes, das sie jetzt in die Hand nehme. Ich nehme die Leute auf eine Reise mit. Ich führe sie zu einem Nadelöhr hin, den Punkt, den jeder kennt, jenen dunklen Raum, wodort, aber in meiner Geschichte verweise ich auf das kleine Licht vom Notausgang. Es zeigt dir, dass es nicht vorbei ist. Und ich nehme die Leute mit und erzähle ihnen jede Dreistig­ keit meiner Story.

Aber Sie haben nach dem Unfall den Lichtpunkt auch nicht sofort wahrgenommen. Wie lange steckten Sie im dunklen Raum, wie Sie die Finsternis nennen, fest?
Drei Jahre. Ich fühlte mich wie in einem Horrorfilm. Ich wollte nur noch aus diesem Albtraum aufwachen. Ich habe immer Fußball gespielt, war ein wilder Bauernbub, bin immer barfuß herumgelaufen. Hackeln, Trai­ning, Fortgehen – ich war als Junger ein kör­perlicher Mensch und habe die Körperlichkeit auch intensiv ausgelebt, manchmal auchexzessiv. Und dann war das alles weg. Ich fühlte mich wie ein nichtsnutziger Wurm.

Ist auch eine Form von Selbsthass dazugekommen?
Ich habe mich geschämt und gegenüber den Frauen unattraktiv gefühlt. Für mich waren früher Behinderte bemitleidenswerte Wesen, und auf einmal war ich selbst eines; denen man vor dem Geschäft einen Behinder­ tenparkplatz überlässt, damit sie sich integ­riert fühlen; denen man etwas Geld hinwirft, um das eigene soziale Gewissen zu besänfti­gen. Nichts gegen Inklusion und das korrekte Reden, aber in Wahrheit hilft dir das alles nicht weiter. Du musst lernen, dich wieder selbst anzunehmen. Akzeptieren ist das fal­ sche Wort. Das gehört aus dem Vokabular gestrichen. Wenn du eine Krebserkrankung akzeptierst, gibst du dem Krebs dein Okay. Wenn du aber sagst, ich nehme die Situation an und als solche wahr, dann bedeutet das ganz emotionslos: Ich habe da eine ernsthafte Situation, was sind meine Möglichkeiten? Ichstrebe nach Heilung. Ich strebe danach, das Mögliche in den Blick zu nehmen. Und in dem Moment, wo du die Umstände akzeptierst, aber nicht das Ende, fängst du wieder zu leben an. Deswegen passieren da Heilungen. Davon bin ich überzeugt. Weil du dich trotz der scheinbar ausweglosen Lage wieder auf den Weg machst. Es geht um Hoffnung, Kraft und Vertrauen. Es geht nicht um Naivität.

Das Unglück ist dreißig Jahre her. Fällt das Reden darüber leichter, oder bleibt es eine Qual?
Eine Qual, weil es mir wehtut, oder eine Qual, weil ich es schon so oft erzählt habe?

Beides.
Ich kann mittlerweile frei über all das Geschehene reden. Die Wende meines Lebens war rückblickend nicht der folgenschwere Unfall, sondern drei Jahre später, als ich gelernt habe, damit umzugehen. Einerseits durch den Glauben und andererseits durch die Begegnung mit Menschen, die ihn mir auf völlig neue Weise nahegebracht haben. Und dann natürlich durch den Sport. Davor haben Sie Selbstvernichtung betrieben. Ich bin vor der Wirklichkeit geflüchtet. Das Unterbewusstsein weiß, dass die Kon­ frontation schmerzhaft sein wird, und dann rennt man innerlich einfach davon. Es kostet immense Kraft und höhlt einen aus. Man rennt und rennt, aus Angst, sich stellen zu müssen.

Wie hat sich die Flucht geäußert?
Ich war jeden Tag eingekifft. Ich habe maßlos getrunken und am Tag zwei PackerlnZigaretten geraucht. Ich habe LSD und Kokain genommen. Ich war am Ende. Ich wollte im Grunde nur mein altes Leben wiederhaben und war knapp davor, keines mehr zu haben.

Wie haben Sie sich aus dem Albtraum befreit?
Jemand hat mich gefragt, wie es mir gehe. Ja, passt schon, hab ich geantwortet. Dann hat er die Frage noch einmal gestellt, bis ich gemerkt habe, der will jetzt wirklich wissen, wie es mir geht. Und dann schaut er mir in
die Augen und sagt: Ich sehe, dass nicht stimmt, was du sagst. Wie geht es dir wirklich? Dann konnte ich ihn nicht mehr anschauen, und ich habe gesagt, dass es mir scheiße geht, dass ich dieses Leben nicht will, sondern das alte wiederhaben will. Da hat dann der Prozess der Umkehr begonnen. Ich habe gelernt, das, was zerbrochen war, anzunehmen, keine Angst davor zu haben. Und als ich auf diesem Fundament der Wahrhaftigkeit angelangt war, nach Wochen, in denen ich nur Wasser und Tee zu mir genommen hab, habe ich mich innerlich wieder aufrichten können. Eine Inspiration auf diesem Weg der Umkehr war dann auch Hermann Maier.

Mit seinem Sturz in Nagano?
Ja, ich dachte, er sei tot. Und dann wird er drei Tage später Olympiasieger. Dann sind die alten Bilder in mir hochgekommen. Wie ich früher mit dem Papa auf dem Diwan gelegen bin, wie wir gemeinsam Olympische
Spiele geschaut haben und wie bewegt wir waren, wenn die österreichische Hymne ertönte. Ich hätte nicht sprechen können. Und dieser „Maier“-Moment, der hat dann in mir etwas ausgelöst. Ich wollte über den Sport
zurück ins Leben finden. Ich wollte auch einmal dort oben die Hymne hören, das war meine Vision. Und das als Kiffer und Würstel. Und wenn ich es trotz all der Barrieren geschafft habe, steckt diese Kraft in jedem
von uns drinnen. Bei mir war es ein Zusammenwirken von Vertrauen, Hoffnung und Glauben. Das hat mich gezogen. Und wenn ich es vergleiche mit den anderen, die die Hoffnung nicht haben, aber sonst alles, wie
sie heimlich die Nase gerümpft und getuschelt haben: Wer hat dann am Ende das erfülltere Leben? Wer ist der Loser?

Wann ist der Glaube ins Leben getreten?
Ein Fundament war früh da. Ich bin in einer bäuerlichen Familie aufgewachsen. Am Sonntag, wenn wir nicht im Stall oder auf dem Feld gearbeitet haben, sind wir in die Kirche gegangen. Bei Tisch wurde gebetet. Als Kind habe ich auch ministriert. Wobei die Höhepunkte eher die Hochzeiten und die Begräbnisse waren, da hat man uns zwanzig oder fünfzig Schilling zugesteckt. Es war trotzdem kein lebendiger Glaube, es waren Rituale, die an äußere Anlässe gebunden waren. So habe ich es empfunden. Der lebendige, tiefere Glaube hat mit dieser Wende angefangen. Ich habe Menschen kennengelernt, die waren auch gläubig, aber sie haben auch unter der Woche von Gott gesprochen. Es war nicht mehr nur der Gott des sonntäglichen Kirchgangs. Dann habe ich in der Bibel zu lesen begonnen, ich, der Kiffer, und bin dabei auf einen meiner Kernsätze gestoßen, der mich seither begleitet und antreibt: Alles ist möglich dem, der da glaubt (Markus-Evangelium). Ich habe mir gesagt, sei frech und mutig, mitunter gegen die Realität. So bin ich über Grenzen hinausgegangen.

Ihre Eltern haben auch Hoffnungen gehabt: dass Sie einmal den Hof übernehmen.
Ja, man wurde damals nicht nach den eigenen Sehnsüchten gefragt, der Weg war vorgezeichnet. Ich habe einen Rasenmähertraktor und liebe es, die Wiese rund um das zweihundert Jahre alte Bauernhaus zu mähen.
Als mein Papa einige Jahre nach dem Unfall gestorben ist, haben wir es ein, zwei Jahre probiert. Wir wollten beweisen, dass es geht, aber es hat nicht mehr getragen. Wir hatten nur noch zwölf Kühe. Dazu kam der fallende Milchpreis. Dann haben wir den Stall herausgerissen und eine physiotherapeutische Praxis
für einen Arzt eingebaut. Sie ist mittlerweile 200 Quadratmeter groß. Daneben haben wir Ferienwohnungen errichtet, den „Reschbergerhof“. Ihn betreibe ich neben dem Training. Auch hier: Wir haben im Unmöglichen
das Mögliche gesucht, wir haben die Veränderung gewagt und haben die Pläne und Ziele mit Zuversicht verwirklicht.

Gibt es auch dunkle Momente des Zweifels, des Verzweifeltseins?
Ja, die gibt es immer wieder. Wie bei jedem. Im Film „Der Name der Rose“ mit Sean Connery fällt der Satz: Der Zweifel ist der Gegner des Glaubens. Wenn man sagt: Ich glaube nicht, dass das gelingen wird. Wenn der Zweifel an einem nagt. Dann hat dich der Teufel wieder. Es gibt auch die Momente, in denen ich den Umstand hasse, dass ich im Rollstuhl sitze. Die Hoffnung als Grundhaltung bedeutet ja nicht, dass es mir taugt, dass ich an den Rollstuhl gefesselt bin. Ich bin nicht glücklich, weil ich im Rollstuhl bin. Ich bin glücklich, obwohl ich im Rollstuhl bin. In den dunklen Momenten hilft mir dann mein Werkzeugkoffer. Er gibt mir die Kraft, dass ich mich wieder auf das Ziel rückbesinnen.

Ihr Unfall liegt jetzt 30 Jahre zurück.Heimfahrt von einer Disco-Nacht. Sie sind nicht am Steuer gesessen und sind in einem anderen Leben aufgewacht. Wie geht man da mit Schuld undVergebung um? Was war das für ein Ringen?
Am Anfang war da sehr viel Selbsthass. Ich habe mir Vorwürfe gemacht. Wie dumm man sein kann, dass man eingeschlafen ist. Aber dann hat es da natürlich auch die Vorwürfe dem Lenker gegenüber, dem Freund,
gegeben. Ich sagte mir: Er trägt die Schuld, dass ich im Rollstuhl sitze und mir das Leben entglitten ist. Als ich zum Glauben fand, konnte ich immer mehr vergeben. Es kam dann auch der Moment, wo ich mit ihm geredet
habe. Ich habe gemerkt, dass ich einen Schuldschein bei ihm habe, aber wo will man den einlösen? Wir haben uns dann umarmt, und ich habe ihm gesagt, dass ich ihm verzeihe. Das Schlimme war: Wenn du ihm diese
Schuld aufbürdest, dann fließt dieses Gefühl ja auch durch dich. Und erst dann habe ich erkannt, dass das Verzeihen, das Entschuldigen und Loslassen eigentlich einen selbst freigibt und ihm in der Bewältigung natürlich
auch hilft. Hoffe ich zumindest. Jedes Jahr, wenn der Tag kommt, kehrt die Last der Erinnerung beim Lenker zurück. Ich kann sie ihm nicht abnehmen, aber ich wünsche mir oft, dass er nicht so viel leiden möge.

Sie hatten das Limit für die Paralympics in Paris geschafft und wurden trotzdem nicht berücksichtigt, weil das Kontingent beschränkt war. Was macht das mit Ihrer Hoffnung?
Es hat wehgetan. Aber heute sage ich mir: Nach der Olympiade ist vor der Olympiade. Schließlich bedeutet sie ja nur eine Zeitspanne. Ich versetze einfach die Zielfahne um vier Jahre nach vorn, also: Los Angeles, 2028.
Mein Gott, es stirbt ja keiner. Ich will deshalb nicht mit dem Sport aufhören, er hat mir das Leben zurückgeschenkt. Es ist wie alles andere im Leben: Das eine wird mehr, das andere weniger. Eine innere Stimme wird mir sagen, wann es genug und vorbei ist, aber ich glaube nicht, dass es vorbei ist. Es ist nicht in Sichtweite. Ich höre es nicht einmal flüstern.

Zur Person

Thomas Geierspichler, geboren am 14. April 1976 in Salzburg, ist österreichischer Rennrollstuhlfahrer. Am 4. April 1994 verunglückte Geierspichler auf dem Heimweg von einer Diskothek als Beifahrer eines Freundes. Er ist seither von der Hüfte abwärts gelähmt. Er wurde fünfmal Weltmeister, sechsmal Europameister und Paralympics-Sieger über 1.500 Meter sowie im Marathon, wo er auch den Weltrekord hält. Geierspichler wurde mehrfach zum Behindertensportler des Jahres gewählt. 2004 erhielt er das Goldene
Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich. Geierspichler betreibt in Anif ein Ferienheim, ist erfolgreicher Buchautor („Mit Rückgrat zurück ins Leben“) und hält Vorträge über die Kraft des Hoffens.

Das Interview ist abgedruckt im Jahrbuch der Diözese Gurk 2025 mit dem Titel "Quellen der Hoffnung".

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„Die Hoffnung als Grundhaltung
bedeutet ja nicht, dass es mir taugt,
dass ich an den Rollstuhl gefesselt bin.“
Thomas Geierspichler | Foto: Fotos: Neumayr
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TIROLER Sonntag Redaktion aus Tirol | TIROLER Sonntag

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