Eine Todesanzeige macht nachdenklich
Wo immer meines Lebens Straße geht...

- Erinnerungen an Sr. Ursula: Biologieheft, Poesiealbum, eines der wenigen Fotos, die ich von ihr habe (Sr. Ursula ganz rechts)
- Foto: Kaltenhauser
- hochgeladen von Lydia Kaltenhauser
Eine Todesanzeige bringt mich über viele Tage zum Nachdenken: Sr. Ursula ist gestorben, die ehemalige Direktorin meines Gymnasiums. Menschen leben, wirken und sterben. Wir wünschen uns, dass ihre Spuren erhalten bleiben. Und wissen doch: „Schnell geht das Leben vorbei, wir fliegen dahin.“ Ein persönlicher Text zum Abschied.
Da liegt die Todesanzeige vor mir: Am 18. Jänner 2025 rief der Herr sie heim, steht da, schwarz auf weiß. Sr. Ursula stand im 89. Lebensjahr und im 66. Jahr ihrer Ordensprofess. Ich schaue lange auf die Worte. „Wo immer meines Lebens Straße geht, bist du, Gott, bei mir“, steht über der Anzeige. Eine bescheidene Todesanzeige, ohne Foto. Sr. Ursula Söllner war die geschätzte und beliebte Direktorin des Gymnasiums, das ich Ende der 90er-Jahre besucht habe.
Ein Leben für die Schule
In den nächsten Tagen holen mich die Gedanken und Erinnerungen an Sr. Ursula immer wieder ein. Als ich als aufgeregte Zehnjährige neu war am Gymnasium, war auch sie neu in der Rolle der Direktorin. Lieber wäre sie Lehrerin geblieben, hat sie oft beteuert. 58 Jahre alt war sie damals, die zweitjüngste ihres Konvents.
Sr. Ursula war eine rundum liebenswürdige Erscheinung. An ihrer unaufdringlichen Freundlichkeit flößte uns irgendetwas gehörigen Respekt ein. Niemals wurde sie laut, niemals ungeduldig oder ungerecht. Sie hatte etwas Anmutiges, Vornehmes an sich, das eine natürliche, sanfte Autorität ausstrahlte. Nie wieder habe ich das bei einem Menschen so erlebt. Und Sr. Ursula lebte für die Schule. „Ich unterrichte für mein Leben gern“, hörte man oft von ihr. Biologie und Chemie waren ihre Fächer. Immer wieder hielt sie im Unterricht inne und sagte: „Der menschliche Körper ist ein Wunder!“ Als wir die Gangarten des Pferdes durchnahmen, „trabte“ Sr. Ursula veranschaulichend durch den Gang im Klassenzimmer, sehr zu unserer Freude. Beim Schulfest tollte sie voll Vergnügen mit uns auf der Hüpfburg. Sie unterrichtete als Direktorin abwechselnd ein bis zwei erste und zweite Klassen, um alle Schülerinnen zu kennen. Und das gelang ihr: Sie kannte jede der 800 Schülerinnen beim Namen.
Offene Tür, offenes Herz
Und wir wussten: Wenn der Schuh drückt, ist ihre Tür offen. Viele Schülerinnen suchten Sr. Ursulas Hilfe und Rat bei privaten wie schulischen Problemen. Sr. Ursula war da, hörte zu, lächelte ihr zuversichtliches Lächeln, half, vermittelte. Alles, ohne je groß davon zu sprechen. Ihre Frömmigkeit war so zurückhaltend wie ihr Charakter. Selten hörte man sie davon sprechen. Eine Begebenheit aber ist mir in Erinnerung geblieben. Es war in einer Biologiestunde um die Mittagszeit. Die Vorhänge waren zugezogen, weil die Sonne blendete. Ein Strahl Sonne aber blitzte hindurch und leuchtete mitten auf das Kreuz im Klassenzimmer. Wir waren in eine Aufgabe vertieft, als Sr. Ursula sagte: „Schaut auf das Kreuz, wie schön!“
Ein Mikrokosmos der Vergangenheit
Sr. Ursula und die anderen Schwestern waren die Seele unserer Schule. Es war ein eigener Mikrokosmos mit seinen Vorzügen und Schrullen, und er gehört der Vergangenheit an. 2001 wurde Sr. Ursula zur Priorin ihres Klosters gewählt und zog mit den anderen Schwestern zurück ins Mutterkloster. „Die Stadt ist uns sehr ans Herz gewachsen“, höre ich sie noch sagen. Wir waren kurz vor dem Abitur und traurig, aber mit den Gedanken woanders. Wie das so ist mit 17 oder 18 Jahren. Aber dass etwas fehlte und mit dem „weltlichen“ Direktor ein völlig anderer Stil einzog, wurde uns schnell schmerzlich bewusst.
„Da war ich glücklich“
Später habe ich Sr. Ursula noch einmal besucht. Beim Rundgang über das große Klosterareal zeigte sie auf die frühere Volksschule, in der sie ihre Laufbahn als Lehrerin begonnen hatte: „Da war ich glücklich“, sagte sie mit dem für sie typischen stillen Lächeln. Direktorin habe sie nicht werden wollen, Priorin auch nicht. Aber sie habe sich gefügt in die Wahl ihrer Mitschwestern. Damals habe ich Sr. Ursula plötzlich mit anderen Augen gesehen. Ich fragte mich, ob sie glücklich gewesen war. Beim Lesen ihrer Todesanzeige stutze ich und denke an jene Situation zurück. Mir war nicht bewusst, dass „unsere“ Schwestern Beinamen hatten, wie es in manchen Orden üblich ist. Sr. Ursula trug das Attribut „von der Todesangst Christi“. Warum mag ausgerechnet die heitere Sr. Ursula diesen Beinamen erhalten haben?
Wo immer meines Lebens Straße geht
Nun ist Sr. Ursula gestorben. Weder auf den Internetseiten des Gymnasiums noch von Kloster, Pfarre oder Gemeinde finde ich einen Nachruf. Ich stelle eine Anfrage an die örtliche Kirchenzeitung, man weiß von nichts. Es gibt nur die unscheinbare kleine Todesanzeige. Von einem Mitarbeiter der Klosterverwaltung bekomme ich das Sterbebildchen zugeschickt. Darauf Sr. Ursula bei einem Spaziergang durch den Klostergarten, darüber wieder die Worte: „Wo immer meines Lebens Straße geht, bist du, Gott, bei mir.“ Der Spruch scheint ihr etwas bedeutet zu haben. Er stammt von Edith Stein, finde ich heraus. Im Original folgt: „Nichts kann von deiner Liebe je mich scheiden.“ Es passt zu Sr. Ursulas Art, dass sie nur die erste Zeile wählte.
Ruhe in Frieden
In Tirol wird Sr. Ursula außer mir wohl niemand kennen. Aber ich möchte gern von ihr erzählen. In dem Wissen, dass es unter uns viele Menschen gibt, die Spuren hinterlassen und doch nach ihrem Tod schneller aus dem Gedächtnis verschwinden als uns lieb ist. Sr. Ursula steht für mich auch für die vielen Ordensfrauen, die ihr Leben dem Unterricht, der Kranken- und Altenpflege, den unscheinbaren Tätigkeiten im Haushalt oder dem Gebet gewidmet haben. Ohne dass sie je Ehrungen, päpstliche Titel oder eine ausführliche Parte dafür erhalten hätten. Und sie steht für das langsame Verschwinden der Ordensfrauen aus den vielen Bereichen des öffentlichen und kirchlichen Lebens, in denen sie früher selbstverständlich präsent waren. Ruhe in Frieden, liebe Sr. Ursula! Mögen Engel dich geleiten und möge das ewige Licht dir leuchten.
Autor:Lydia Kaltenhauser aus Tirol | TIROLER Sonntag |
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