Interview mit Margit Weiß
Für den eigenen Wert einstehen
Margit Weiß aus Kufstein hat ladinische Wurzeln. Von Klein auf hörte sie Erzählungen über ihre Urgroßmutter, die Hebamme Maddalena Decassian aus Buchenstein (Fodom/Provinz Belluno). Die Geschichte ließ sie nicht los – aus ihrer Spurensuche wurde ein Roman.
Erzählen Sie uns kurz vom Leben Ihrer Urgroßmutter Maddalena?
Weiß: Maddalena Decassian wurde 1866 im ladinischen Buchenstein in einer kinderreichen Familie geboren. Es war eine sehr arme, karge Gegend, auf 1600 Metern in den Dolomiten. Die Not der Frauen war besonders groß. Maddalena ging mit 19 Jahren gegen den Willen ihrer Eltern nach Innsbruck, um sich als Hebamme ausbilden zu lassen, was ihr auch gelang.
Was bedeutet sie Ihnen?
Weiß: Ich war immer fasziniert von ihr. Alle hatten großen Respekt vor ihr: Sie war anders als die anderen, ist mutig ihren eigenen Weg gegangen. Vieles war mir nicht klar: Wie sie das geschafft hat, ohne Geld, ohne eine Unterkunft, ohne alles.
Und dieses Rätseln hat Sie dazu gebracht, ein Buch zu schreiben?
Weiß: Ja – diese Lücken, die nicht erzählt werden, gibt es ja in jeder Familie. Ich habe den Faden, den ich hatte, aufgegriffen und im Schreiben mein eigenes Muster gewebt. Zuvor bin ich zu Fuß den Weg von Buchenstein bis Brixen gegangen, auf Maddalenas Spuren.
Was bedeutet Ihnen das Schreiben?
Weiß: Das Erzählen hat bei den Ladinern und auch in meiner Familie eine große Tradition. Ladiner sind meist dreisprachig, da hat Sprache an sich schon eine große Bedeutung für das Zusammenleben. Über das Erzählen der Familiengeschichte, von Sagen und Mythen verbindet Sprache auch ins Vertikale. Sprache ist für mich die Möglichkeit, Identität auszubilden – ein Lebens-Mittel.
Maddalenas Lebensgeschichte ist von viel Leid geprägt. Wie ist es Ihnen damit gegangen?
Weiß: Sehr beschäftigt hat mich ihre Reaktion auf die Vergewaltigung und den Suizid ihrer Stieftochter. Wie kann eine Frau, die eine so viel schwächere Position hat als der Täter, diesen ohne jegliche juristische Handhabe zur Rechenschaft ziehen? Maddalena stand für ihre persönliche Wahrheit ein, egal ob es einen Richter gab oder nicht. Sie hat als Person ihre eigene Haltung entwickelt und daraus gehandelt. Das berührt mich sehr an ihr und ich denke, ihre Haltung ist für die heutige Zeit, in der Mitmenschlichkeit oft bedroht ist, sehr wichtig. Dass Frauen für sich selbst einstehen, nicht gegen Männer oder Mächtige, sondern für den Wert, der in ihnen selbst liegt, liegt mir sehr am Herzen.
Denken Sie, die Menschen waren damals resilienter als heute?
Weiß: Das nicht, aber die Menschen haben damals einen anderen Sinn erfahren, um Nöte durchzustehen – allein durch das Ausgeliefertsein an die Kräfte der Natur. Harte Arbeit war nötig, um zu überleben. Manche Fragen haben sich gar nicht gestellt. Zugleich war auch der soziale Zusammenhalt notwendig und unumgänglich. Natürlich war das mit massiver sozialer Kontrolle verbunden, aber allein konnte man kaum überleben.
Was gibt Ihnen Kraft fürs Leben?
Weiß: Ich spüre die Gewissheit, in etwas Größeres eingebettet zu sein. Das entlastet und ermöglicht mir, mich anderen zuzuwenden, denn ich kann es in allem Lebendigen entdecken. Überall ist Verbindung, in jedem ist ein Wert grundgelegt. Ohne diese spirituelle Haltung wäre auch mein Beruf als Psychotherapeutin für mich nicht denkbar.
Zum Weiterlesen:
Margit Weiß: Maddalena geht. Roman. Edition Raetia 2024, 256 Seiten, € 22,-
Autor:Lydia Kaltenhauser aus Tirol | TIROLER Sonntag |
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