Bischof Hermann Glettler berichtet von den Zuständen auf Lesbos
Fluchtursachen nicht die Flüchtenden bekämpfen

„Meine Intention ist zu vermitteln, aufmerksam zu machen und damit einen kleinen Beitrag zu leisten, dass möglichst viele Augen, Herzen und Hände sich öffnen“, erklärt Bischof Hermann Glettler seinen Besuch auf der Insel Lesbos.
Im Bild zu sehen das Lager Kara Tepe bei Sonnenaufgang. | Foto: privat
  • „Meine Intention ist zu vermitteln, aufmerksam zu machen und damit einen kleinen Beitrag zu leisten, dass möglichst viele Augen, Herzen und Hände sich öffnen“, erklärt Bischof Hermann Glettler seinen Besuch auf der Insel Lesbos.
    Im Bild zu sehen das Lager Kara Tepe bei Sonnenaufgang.
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Mit Vertreter/innen der Initiative „Courage: Mut zur Menschlichkeit“ und des Vereins „Flüchtlingshilfe Doro Blancke“ war Bischof Hermann Glettler auf der griechischen Insel Lesbos. Der dreitägige Besuch war Faktencheck und adventliche Herbergsuche zugleich. Das Fazit des Bischofs: Gemeinsames Handeln ist gefragt, 100 Familien sollten noch vor Weihnachten aufgenommen werden.

Wie sieht die humanitäre Situation vor Ort aus?
Bischof Hermann Glettler: Nach den Regenfällen der vergangenen Woche ist die Lage zum Verzweifeln. Trotz der Ableitung des Wassers von den Plätzen des Lagers Kara Tepe steht es in vielen Zelten oder fließt einfach durch. Nun steht der Winter als größte Bedrohung vor der Tür, extreme Temperaturen, auch Schnee ist möglich. Die Situation ist bitterernst. Eigentlich müsste das Lager sofort evakuiert werden.

Wie viele Menschen leben im Lager? Gibt es eine medizinische Versorgung?
Glettler:
Im Lager Kara Tepe II, das direkt am Meer liegt, leben momentan 7300 Personen. Es wurde nach dem Brand des Lagers Moria, das sich inmitten der Olivenhaine befand, innerhalb von ein paar Tagen als Notlager gebaut. Dementsprechend mangelhaft sind die Infrastruktur und sanitäre Versorgung. Erst jetzt, nach ca. drei Monaten, werden die ersten Duschen gebaut. Warmwasser und Strom gibt es immer noch nicht. Eine medizinische Grundversorgung ist Gott sei Dank im Lager vorhanden.

In welcher psychischen Verfasstheit haben Sie die Menschen erlebt?
Glettler:
Den Leuten sieht man ihre Belastungen an. Sie haben dramatische Fluchtwege mit schweren Traumata hinter sich. Die Hoffnungen auf ein besseres Leben sind an den europäischen Stränden zerschellt. Nach allen Todesängsten auf der Überfahrt brauchen die Angekommenen eine vielfältige Hilfe. Sie müssen ihr Grundvertrauen ins Leben wieder finden.

Welche weitere Perspektive gibt es für die Unterbringung auf Lesbos?
Glettler:
Aktuell laufen die Planungen für ein fixes Lager für 10.000 Personen, das dann hoffentlich dem humanitären Standard der europäischen Flüchtlingskonvention entsprechen wird. Das jetzige Lager tut es nicht. Es rächt sich in der jetzigen Misere, dass nicht rechtzeitig mit dem Bau einer winterfesten Anlage begonnen wurde. Lesbos und die vier benachbarten griechischen Inseln, auf denen sich ein ähnliches Elend zuträgt, können in Zukunft ohnehin nur Aufnahmestation für Registrierung, Erstversorgung und Asylverfahren sein.

Welche Corona-Maßnahmen werden gesetzt, wie beeinflusst das das Leben der Flüchtlinge?
Glettler:
Neben dem Eingangsbereich ins Lager gibt es eine Covid-Quarantäne. Dort sind 25 Zelte im Einsatz, die Österreich geliefert hat, weitere 75 sind noch eingelagert. Die Ausgangsmöglichkeit aus dem Lager wurde aufgrund der Corona-Krise zeitlich und zahlenmäßig drastisch reduziert. Auch wir mussten bei unserem Besuch extrem vorsichtig sein, um niemanden zu gefährden.

Wie ist die Situation der Kinder?
Glettler:
Ungefähr ein Drittel der Untergebrachten sind Kinder, darunter viele Kleinkinder und Neugeborene. Alleinstehende Mütter sind mit ihren Kindern an einem anderen Ort, etwas außerhalb der Hauptstadt. Aktuell gibt es keine Schulklassen im Camp, entsprechende Projekte sind aber angedacht. All diese Verbesserungen dauern unendlich lange.

Wer kümmert sich eigentlich im Lager um die Menschen?
Glettler:
Erstzuständig für die Versorgung ist Griechenland. Die nötigen Gelder dafür kommen zu zwei Dritteln von der Europäischen Union. Die griechischen Behörden könnten jedoch ohne das vielfältige Engagement der nationalen und internationalen NGOs diese enorme Aufgabe niemals stemmen. Sie werden durch Spendengelder aus dem Ausland finanziert und von Volunteers unterstützt. Wir selbst waren Gäste einer griechischen NGO, die sich um die Essensversorgung der besonders vulnerablen Gruppen kümmert. Sie versuchen den Menschen eine persönliche Wertschätzung zu geben – und wollen sie keinesfalls als „zu versorgende Objekte“ behandeln.

Wo kommen die Flüchtlinge her?
Glettler:
Viele haben lange, entsetzliche Fluchtwege hinter sich. Eine große Anzahl sind Afghanen, die im Iran gelebt haben oder ihr Land aufgrund der andauernden Krise verlassen haben. Eine nicht unbeträchtliche Zahl sind afrikanische Flüchtlinge, hauptsächlich aus Somalia und Eritrea.

Wie steht die einheimische Bevölkerung auf Lesbos zu den Flüchtlingen?
Glettler:
2014 und 2015 war die Bereitschaft der Bevölkerung, Flüchtlinge aufzunehmen, sehr groß. Griechenland ist mit Recht für seine Gastfreundschaft bekannt. Als jedoch die Zahl der gestrandeten Menschen jede Relation zur Bevölkerungsanzahl überstieg, ist die Stimmung gekippt. Es kam bereits zu nicht ungefährlichen Auswüchsen von Aggression und Fremdenhass. Auch der Einbruch des Tourismus hat zum Stimmungswechsel beigetragen.

Wer kann auf das griechische Festland überwechseln?

Glettler: Das ist nur jenen erlaubt, deren Asylverfahren auf der Insel positiv abgeschlossen wurde. Eine beträchtliche Anzahl schlägt sich ohne Grundversorgung durchs Leben. Durch eine Übersiedlung auf das Festland wird das Problem nur verschoben. Das griechische Sozialsystem kann diese Menschen nicht auffangen. Die Anzahl der Obdachlosen in den Straßen von Athen ist bereits enorm. Europa muss hier eingreifen – unverzüglich auch mit einer sofortigen Evakuierung der besonders gefährdeten Personengruppen. Ohne diese Notfallmaßnahme wird es vermutlich recht bald Erfrorene geben.

Reicht die „Hilfe vor Ort“ nicht aus, die von unserer Regierung immer wieder genannt wird?
Glettler:
„Hilfe vor Ort“ ist die notwendige Erstversorgung, wie sie in jedem Krisenfall notwendig ist. Aber sie reicht nicht aus. Was es dringend braucht, ist eine gemeinsame europäische Anstrengung, um alle, die einen positiven Asylbescheid erhalten haben, möglichst fair auf die Mitgliedsstaaten der EU zu verteilen. Auch Österreich darf sich davon nicht dispensieren, auch wenn unser Staat der üblichen Asylverpflichtung sehr wohl nachkommt. Die Länder an den EU-Außengrenzen dürfen mit dem Flüchtlingselend nicht allein gelassen werden.

Werden auch Flüchtlinge in die Türkei zurück abgeschoben?
Glettler:
Soweit ich erfahren habe, funktioniert die Rückführung nicht. Die Türkei nimmt seit März trotz der vertraglichen Verpflichtung niemanden mehr zurück.

Welches Anliegen vertreten Sie gegenüber der Bundesregierung?

Glettler: Aufgrund der höchst besorgniserregenden Lage auf Lesbos wünsche mir grünes Licht für die Aufnahme von 100 Familien – direkt aus dem Lager und noch vor Weihnachten! Die 100 Familien könnten wir ohne große Anstrengung auf Österreich verteilen. Die sie aufnehmenden Einzelpersonen, Vereine oder Pfarren könnten sofort auch eine Integrationspatenschaft eingehen, damit die betroffenen Menschen eine neue Perspektive für ihr Leben bekommen.

Wäre dabei nicht der gefährlich Pull-Faktor zu fürchten, dass also Unzählige nachkommen?
Glettler:
Gefährlicher als die sog. Pullfaktoren sind die Pushfaktoren, d.h. die Ursachen, die Menschen dazu zwingen, ihre Heimatländer zu verlassen: Krieg, Terror, Hunger, Perspektivenlosigkeit u.v.m. Wir müssen genau diese Fluchtursachen bekämpfen und nicht die Flüchtenden! Menschen nicht von den griechischen Inseln zu holen, um Nachkommende mit der prekären Situation abzuschrecken, ist eine unwürdige Taktik mit menschlichen Schicksalen.

Was kann die Zivilgesellschaft in Österreich angesichts der Not auf Lesbos tun?
Glettler:
Wir alle müssen die Gleichgültigkeit durchbrechen. Es gibt bereits eine große Anzahl von Initiativen aus den verschiedensten Städten und auch Pfarrgemeinden unseres Landes, die immer deutlicher ihre Stimme erheben. Sinnvoll erscheint mir die direkte Kooperation mit NGOs, die vor Ort tätig sind, um konkret die aktuelle Not zu lindern.

Ist Lesbos ein Versagen Gesamt-Europas?

Glettler: Ja, soweit ich dies beurteilen kann. Trotzdem will ich mich mit Schuldzuweisungen zurückhalten. Meine Intention ist zu vermitteln, aufmerksam zu machen und einen Beitrag zu leisten, damit sich möglichst viele Augen, Herzen und Hände öffnen.

Ihre Reise haben Sie auch als adventliche Herbergssuche bezeichnet. Orten Sie offene Herbergen in Österreich?
Glettler:
Ja, viele sind bereit. Auch in den Einrichtungen für Asylwerber, die seit 2015 angemietet sind, gibt es freie Plätze. Von der Stadt Innsbruck, die sich für die Aufnahme von Personen aus Lesbos ausgesprochen hat, habe ich dem Bürgermeister von Mytilini Grüße überbracht. Ebenso engagiert sich eine Gruppe aus dem Außerfern, inklusive Bürgermeister und Pfarrer für die Aufnahme von Leuten aus Lesbos. Ich nenne diese Initiative stellvertretend für viele andere Solidaritätsgruppen in ganz Österreich. Nur ohnmächtig zuschauen und untätig bleiben wollen viele nicht mehr. Denen, die an unsere Türen anklopfen, zu sagen, dass wir keine freien Plätze hätten, wäre eine Lüge. Das Wort Jesu muss uns leiten: „Wer einen von den Geringsten aufnimmt, nimmt mich auf!“

Autor:

TIROLER Sonntag Redaktion aus Tirol | TIROLER Sonntag

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