Zum 50. Jahrestag der Fristenregelung
„Es bleibt noch einiges zu tun"
Innsbruck, 28.11.2023 Für einen stärkeren Fokus der katholischen Kirche auf Begleitung von Schwangeren in Krisen sowie auch von jenen, die eine Abtreibung durchführen ließen, hat sich Österreichs "Familienbischof" Hermann Glettler ausgesprochen. Es gelte hinzuhören auf das, "was Frauen in einer Konfliktschwangerschaft wirklich bewegt und was sie benötigen" und immer Wohl der Frau wie auch des Kindes gemeinsam im Blick zu haben, sagte der auch für Lebensschutz zuständige Bischof in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Kathpress. Glettler erneuerte dabei die kirchliche Forderung nach Abbruchsstatistik, Motivforschung und Wartefrist zwischen Beratung und Durchführung einer Abtreibung, zudem lehnte er ein staatlich finanziertes Abtreibungsangebot an öffentlichen Spitälern ab.
Kathpress dokumentiert im Folgenden den vollen Wortlaut des Interviews:
Kathpress: Abtreibung ist nicht nur in den USA wegen der Aufhebung des "Roe v. Wade"-Urteils von 2022 ein heißes Thema. Äußerungen der Kirche werden dabei oft als unangebracht abgetan. Warum eigentlich?
Glettler: Leider ist die Debatte durch zu viel Ideologie vergiftet. Ein offener, respektvoller Dialog wäre hilfreich. Vermutlich müssen wir auch noch stärker unseren Fokus auf Begleitung richten. Hinhören auf das, was Frauen in einer Konfliktschwangerschaft wirklich bewegt und was sie benötigen. Durch den Auftrag Jesu versuchen wir doch in sozialen Fragen auf der Seite derer zu sein, die keine Stimme haben. Diese Anwaltschaft wird positiv wahrgenommen, bei der Frage der Abtreibung jedoch oft als Affront gegen Frauen und deren Rechte gewertet. Was schlichtweg falsch ist. Es geht um beides: das Wohl der Frau und um das Wohl des Kindes. Erfreulich ist, dass sich die Aktionsformen von Lebensschutz-Organisationen in den letzten Jahren positiv weiterentwickelt haben. Viel stärker als um ein kompromissloses Dagegen-Sein geht es jetzt um Ermutigung und Kooperationen, die ein Ja für das Leben stärken.
Kathpress: Gibt es die "eine" kirchliche Position in der Frage des Lebensbeginns bzw. bei Abtreibung? Ist das Eintreten gegen Abtreibung vor allem eine religiöse Verpflichtung?
Glettler: Nein. In der Abtreibungs-Debatte geht es um ein sensibles menschliches Problem, nicht um ein religiöses. Ausschlaggebend ist, ob wir über ein Zellgewächs diskutieren, das beliebig entfernt werden kann, oder über einen Menschen in seiner ersten Entwicklungsphase. Es ist ein Faktum, dass das menschliche Herz am 21. Tag nach der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zu schlagen beginnt. Ein wahres Wunder! Davon ausgehend braucht es eine Sensibilisierung für die Würde und den Wert jedes menschlichen Lebens. Nach vielen Diskussionen mit jungen Leuten weiß ich, dass sie dafür aufgeschlossen sind. Die christliche Botschaft trifft ihre Sehnsucht: "Du bist von deinem Schöpfer gewollt und geliebt - von Anfang an und in jeder Situation!" Ja, das zählt, gerade in Momenten großer Herausforderungen und Belastungen. Das Leben ist ein Geschenk Gottes, gerade in seiner verwundbarsten Phase im Mutterleib.
Kathpress: Abtreibung ist in Österreich seit 1973 in den ersten drei Monaten straffrei. Gegen die Fristenregelung mobilisierte Österreichs Kirche damals im Vorfeld im großen Stil. Hat sie sich heute, 50 Jahre danach, damit abgefunden?
Glettler: Damals wie heute halten die Bischöfe fest, dass aus der rechtlichen Grundlage für Schwangerschaftsabbrüche in Österreich niemals ein "Recht auf Abtreibung" abgeleitet werden kann. Ein solches ergibt sich auch nicht aus dem europäischen oder internationalen Recht. Der Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, deren Proklamation vor 75 Jahren wir bald begehen, spricht allen Menschen das "Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit" zu. Mit dieser Klarheit ist die Forderung abzulehnen, dass es ein "Menschenrecht auf Abtreibung" gäbe. Der Schwangerschaftsabbruch ist vom österreichischen Gesetzgeber unter bestimmten Umständen straffrei gestellt. Dies bedeutet jedoch auch, dass Frauen die Last einer Entscheidung über das Leben des Ungeborenen aufgebürdet wird.
Kathpress: In einem Interview wurden Sie als Familienbischof im Vorjahr so zitiert, dass die Kirche in Sachen Abtreibung "nicht an der Strafbarkeit interessiert" sei. Gäbe es für Sie eine Alternative zur Verankerung im Strafgesetzbuch?
Glettler: Eigentlich nicht. Es ist die fundamentale Aufgabe des Staates, das Leben zu schützen, in letzter Konsequenz auch mit Strafbestimmungen. Dennoch geht es der Kirche nicht um Strafandrohungen, sondern um den Ausbau an Unterstützungsleistungen, damit sich keine Frau durch soziale oder sonstige Umstände zu einer Abtreibung genötigt sieht. Mit Sicherheit gewinnt der Schutz des ungeborenen Lebens seine Überzeugungskraft nicht aus dem Strafrecht. Ausschlaggebend sind die positiven Erfahrungen derer, die sich trotz widriger Umstände für ihr Kind entschieden haben.
Kathpress: Was sagen Sie zum Vorwurf von Abtreibungs-Befürwortern, die Kirche beachte bei ihrem Einstehen für das ungeborene Leben zu wenig das Selbstbestimmungsrecht der Frau?
Glettler: Die Selbstbestimmung eines Menschen ist ein hohes Gut, darf aber nicht isoliert betrachtet werden. Jede unserer Entscheidungen betrifft auch immer andere Menschen, die mitbetroffen sind und ebenfalls ihre Rechte haben. Die persönliche Freiheit endet dort, wo die Freiheit eines anderen Menschen tangiert wird. Das elementare Lebensrecht eines Kindes darf nicht geringer bewertet werden als das Freiheits- und Selbstbestimmungsrecht einer erwachsenen Person. Diesen Grundkonflikt zu benennen und gewaltfreie Lösungen vorzuschlagen, ist das Anliegen all derer, die sich für Lebensschutz einsetzen.
Kathpress: Welche Aufgabe kommt in einem derartigen Konfliktfall der Beratung von Schwangeren zu?
Glettler: Eine qualitätsvolle Beratung muss immer ergebnisoffen sein. Der Sinn einer Beratung ist doch das Aufzeigen aller möglichen Optionen und die gemeinsame Suche nach Hilfen, um ein Ja zum Leben zu ermöglichen. An dieser Stelle möchte ich mich bei den Beratungseinrichtungen und allen, die Frauen in schwierigen Entscheidungskonflikten professionelle Unterstützung bieten, bedanken. Die Tötung des Ungeborenen ist für keine Frau eine Entscheidung erster Wahl. Wenn entsprechende Angebote und Unterstützungen fehlen, drängt sich oft die Abtreibung des Kindes als letzter Ausweg auf. Internationale Studien zeigen leider auch, dass es viel häufiger als gedacht einen Druck durch Dritte gibt, insbesondere durch den Kindesvater, der das Kind ablehnt und zur Abtreibung drängt.
Kathpress: Warum ist es Ihrer Ansicht nach bis heute nicht gelungen, die "flankierenden Maßnahmen" umzusetzen? Welches der damaligen Versprechen wäre aus Ihrer Sicht besonders wichtig?
Glettler: Als 1973 das Gesetz zur "Fristenregelung" auf den Weg gebracht wurde, betonte der damalige SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky, man müsse alles tun, um diesen Paragrafen "obsolet" zu machen und Frauen zu unterstützen, damit sie "das Kind behalten". Von den versprochenen "flankierenden Maßnahmen" wurde nur die Einrichtung von Sozial- und Familienberatungsstellen in Österreich umgesetzt. Sie leisten unzähligen Menschen einen wertvollen Dienst. Nicht umgesetzt, aber längst nötig wäre eine statistische Erhebung von Schwangerschaftsabbrüchen und eine damit einhergehende Motivforschung. Ebenso notwendig wäre eine gesetzlich vorgegebene Wartefrist zwischen Beratungsgespräch und Eingriff. Es bleibt also einiges zu tun.
Kathpress: Gibt es aus Ihrer Sicht noch andere Missstände im Bereich Abtreibung, die dringend behoben werden müssten?
Glettler: Wirklich schmerzhaft empfinde ich den immer noch bestehenden diskriminierenden Tatbestand, dass ein Kind mit einer diagnostizierten oder auch nur vermuteten körperlichen Beeinträchtigung bis zur Geburt abgetrieben werden kann. Damit betreiben wir eine Selektion von scheinbar "lebensunwürdigem" Leben, die dem Anspruch einer humanen, inklusionsbereiten Gesellschaft in keinster Weise gerecht wird. Ich habe außerdem zahlreiche Gespräche mit betroffenen Eltern geführt, die aufgrund einer Verdachtsdiagnose zu einem Spätabbruch ihres mutmaßlich behinderten Kindes regelrecht gedrängt worden sind.
Kathpress: Was sagen Sie zur Forderung, dass Schwangerschaftsabbrüche an öffentlichen Krankenanstalten kostenlos durchgeführt werden müssen? In Tirol und Burgenland ist dies ja noch nicht der Fall.
Glettler: Eine Schwangerschaft ist keine Krankheit, auch wenn sie für die Frau eine Zeit starker körperlicher Belastungen sein kann. Aus diesem Grund hat der Staat auch nicht die Verpflichtung zu einem "niederschwelligen und kostenlosen Angebot für Schwangerschaftsabbrüche", wie dies immer wieder gefordert wird. Ein staatlich finanziertes Abtreibungsangebot in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen lässt sich aus meiner Sicht auch ethisch nicht begründen. Das Spital ist ein Ort, um das Leben zu erhalten, nicht um es zu verwerfen.
Kathpress: Bei Lebensschutz-Märschen halten Sie (und auch andere Bischöfe) es so, dass sie mit den Teilnehmenden Gottesdienst feiern - im Vorfeld. Was hält davon ab, selbst mitzugehen?
Glettler: Ich bin allen Teilnehmenden für ihr Engagement dankbar, mit dem sie deutlich die Stimme für das Leben erheben. Der schon erwähnte neue Stil verzichtet auf aggressive Konfrontationen, wie dies mit öffentlich zur Schau gestellten Fotos von abgetriebenen Föten der Fall war. Der letzte "Marsch für das Leben" in Wien hatte aufgrund seiner offenkundig positiven Haltung auch ein positives Medienecho zur Folge. Es werden im öffentlichen Raum Menschen sichtbar, die das Leben umarmen wollen und zum Gespräch bereit sind. Dennoch meine ich, dass eine nachhaltige Überzeugungsarbeit besser durch Gespräche und persönliche Begegnungen gelingt. Das respektvolle Hinhören und Aufeinander-Zugehen scheinen mir effektiver zu sein als öffentliche Kundgebungen, die immer wieder auch gegenteilige Proteste auf den Plan rufen.
Kathpress: Wie geht die Kirche um mit Frauen, die abgetrieben haben? Und mit den daran beteiligten Männern? Was bedeutet das für Seelsorge und Beichte? Welche Erfahrungen haben Sie selbst hier gemacht?
Glettler: Jede Form der Verurteilung von Frauen, die einen Abbruch durchgeführt haben, ist vollkommen unangebracht. Leider sind diesbezüglich schon zu viele Verletzungen passiert. Eine im Frühjahr erschienene Forschungsarbeit des Bioethik- Instituts IMABE zeigt, dass Schwangerschaftsabbrüche mit erhöhtem Risiko für psychische Gesundheitsprobleme verbunden sind. Der erste Auftrag von Kirche ist eine verständnisvolle Begleitung. Betroffene brauchen eine innere Heilung. Aus seelsorgerlicher Praxis weiß ich, dass Frauen oft noch nach Jahrzehnten die Last einer Abtreibung mit sich tragen. In Beichtgesprächen ist mir dies oft begegnet. Wir sollten offener über die Notwendigkeit einer psychischen Betreuung nach einer Abtreibung sprechen. Wo gibt es Angebote dazu? Ja, auch die Männer, die bei der Entstehung einer Schwangerschaft ja nicht unbeteiligt waren, sind viel stärker in die Pflicht zu nehmen.
Kathpress: Wie hat Papst Franziskus die heutige Position der Kirche im Lebensschutz geprägt? Einige seiner Aussagen sind an Klarheit nicht zu überbieten.
Glettler: Papst Franziskus ging es von Anfang an um eine Sensibilität gegenüber den Schwächsten der Gesellschaft. Er möchte mit aller Kraft verhindern, dass menschliches Leben als nicht-lebenswert ausgesondert und weggeworfen wird. Bereits 2013 hat er in seiner ersten Enzyklika "Evangelii Gaudium" sehr pointiert Stellung bezogen. Es ist seine tiefe Überzeugung, "dass ein menschliches Wesen immer etwas Heiliges und Unantastbares ist, in jeder Situation und jeder Phase seiner Entwicklung. Es trägt seine Daseinsberechtigung in sich selbst und ist nie ein Mittel, um andere Schwierigkeiten zu lösen" (EG 213).
Kathpress: Papst Franziskus beschwört immer wieder auch eine "Kultur des Lebens", die es zu fördern gilt. Was in der Gesellschaft müsste sich ändern, damit Kinder willkommen sind und angenommen werden?
Glettler: Erlauben Sie mir einen Hinweis: Für Corona-Tests hat Österreich 5 Milliarden Euro ausgegeben, um Leben zu schützen. Im Vergleich dazu sind Vereine, die Schwangeren in Not auch finanziell helfen, bis heute fast ausschließlich spendenfinanziert. Diese Logik ist nicht einsichtig. Es braucht eine verstärkte Investition in Beratung, Begleitung, Prävention und Bewusstseinsbildung. Aktuelle Studien zeigen, dass zwei Drittel der Frauen im Nachhinein sagen, dass sie das Kind bekommen hätten, wenn sie eine Aussicht auf Unterstützung gehabt hätten. Es braucht darüber hinaus an Schulen nicht nur eine positive Sexualpädagogik, sondern auch Aufklärung über die Entstehung und Entwicklung menschlichen Lebens. Ebenso notwendig sind Informationen über Hilfestellungen für Schwangere und die ehrlichen Fakten rund um Schwangerschaftsabbrüche.
Kathpress: Womit trägt die Kirche zu einer solchen Entwicklung bei? Was tut sie für Schwangere in Not?
Glettler: Unser Platz ist an der Seite der besonders "Vulnerablen", die den überhöhten Ansprüchen einer Leistungsgesellschaft zum Opfer fallen. Sie gilt es wahrzunehmen, wertzuschätzen, zu befähigen, zu stärken und zu schützen. Unzählige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kirchlicher und kirchennaher Einrichtungen sind für Frauen, Kinder und Familien im Einsatz. Exemplarisch möchte ich auf die Beratungsangebote der Caritas, von der Kirche geführte und subventionierte Frauenhäuser sowie die "Aktion Leben" hinweisen - all das sind unverzichtbare Akteure, die individuell und je nach Notlage unterstützen. Alle, die in der Frauenberatung und -förderung sowie im Gewaltschutz tätig sind, leisten eine wichtige Arbeit. Auch die Begleitung und Unterstützung von armutsgefährdeten Familien gehört hier erwähnt.
Kathpress: Sie haben im Vorjahr den Film "Lasst uns reden" beworben, der die Abtreibung und dessen Folgen aus der Tabuzone holen will. Gibt es Ansätze, die ein neues, ehrliches Reden über das Thema möglich machen?
Glettler: Der erwähnte Film ist tatsächlich eine großartige Hilfe, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Es wird von acht Konfliktschwangerschaften berichtet und von den unterschiedlichen Erfahrungen der Betroffenen. Der Film kommt ohne moralische Belehrung und Verurteilungen aus. In der polarisierten Debatte um einen angemessenen Schutz des Lebens ist jede Verhärtung und Ideologisierung völlig fehl am Platz. Besonders problematisch wird es, wenn das sensible Thema parteipolitisch besetzt und in Wahlkämpfe gezogen wird. In jedem Fall müssen Verbesserungen geschaffen werden, sodass Kinder angstfrei und ohne überbordende Sorgen zur Welt gebracht werden können. Maßnahmen zur sozialen Sicherung sind dabei ebenso notwendig wie Gerechtigkeit in der Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern.
Autor:TIROLER Sonntag Redaktion aus Tirol | TIROLER Sonntag |
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