Kirchengeschichte
Reliquien und Legenden: Alles tot Ding?
Österreichs Kirchen sind voll davon und sie haben nicht nur in der Vergangenheit für kritische Nachfragen gesorgt: Reliquien. Ihre Verehrung und die Legenden, die sie selbst und ihre Eigentümer umranken, provozieren die Frage: wozu das Ganze?
Der Anführer der blutigen Oktoberrevolution, Wladimir Iljitsch Lenin, verstarb nach sieben Schlaganfällen im Alter von nur 53 Jahren. Sein Nachfolger Stalin ordnete an, Lenins von Krankheit gezeichneten Körper einbalsamieren zu lassen und in einem Mausoleum auszustellen. Seitdem, selbst lange nach dem Untergang der Sowjetunion, arbeiten wöchentlich Mediziner und Wissenschaftler daran, die sterbliche Hülle des Revolutionärs vor dem Zerfall zu bewahren. Wüsste Karl Marx, der Religion einst als „Opium für das Volk“ beschrieben hatte, dass sich um das Grab eines seiner geistigen Schülers eine Art parareligiöser Totenkult gebildet hat, würde er sich wahrscheinlich seinerseits im Grab umdrehen.
Und doch gibt es ihn, den Kult um Lenin. Wohl auch deswegen, weil eine solche Art der Totenverehrung gar nichts unbedingt Religiöses ist: Bereits in der frühen Menschheitsgeschichte gab es sie – ein Stammeshäuptling, ein reiches oder angesehenes Stammesmitglied wurde mit Grabbeigaben in der Nähe seines Hauses oder Dorfes beigesetzt. Ihnen wurden auch oft Aufgaben anvertraut, die sie im Jenseits für seine Stammesgemeinschaft zu erfüllen hatten, sei es Schutz, Hilfe in Notzeiten oder persönlicher Beistand. Erinnert wurden sie an diese Aufgaben durch Beschwörungen, Rituale und Anrufungen. Ein solcher Totenkult erfüllt sowohl eine mythische wie eine rituelle Funktion: Die Erinnerung und das Gemeinschaftsgefühl an und mit den Toten werden wachgehalten, in den Riten für die Toten sammelt sich die Gemeinschaft um sie.
Das Haus der Toten
In der römischen Antike war das Grab die domus aeterna, das ewige Haus des Toten. Somit ist es in Wahrheit Ort des Lebens, da es die Wohnstatt des Verstorbenen ist. Im Buddhismus konzentrierte sich der Totenkult vor allem auf Buddha und dessen wichtigste Jünger. In den sogenannten Stupas, tempelartigen Gebäuden, werden Teile der Leichen verehrt – hier begegnet uns zum ersten Mal in der Religionsgeschichte auf prominente Weise das Phänomen der Reliquie.Zungen, Blutstropfen, Gewandstücke, die Windel und die Dornenkrone Jesu.
Eine Reliquie (von lateinisch reliquiae, „Zurückgelassenes“) ist ein Fragment oder Teil der Leiche eines Menschen, der als heilig verehrt wird. Obwohl, wie gesagt, auch der Buddhismus und der Islam (Barthaare des Propheten Mohammed sind eine begehrte Reliquie unter den Muslimen) Reliquien kennen und verehrt werden, gibt es kaum eine so ausgeprägte Reliquienverehrung wie im Christentum, vor allem im Katholizismus und der Orthodoxie. Gerade in ersterem sind Reliquien eigentlich omnipräsent: Der Wettersegen in der Sommerzeit wird mit einer Kreuzreliquie gespendet, also einem Stück des echten Kreuzes Christi, in jedem geweihten Altar sind Reliquien eingelassen, große Kirchen und Klöster können meist auf einen bedeutenden Reliquienschatz stolz sein.
Von Knochensplittern bis zu ganzen Skeletten
In Barockkirchen sind oft ganze Skelette ausgestellt, sogenannte Katakombenheilige, die aus den römischen Katakomben entnommen wurden. Man findet Knochen, Hautpartikel, Muskelfasern, ganze Organe wie Herzen, Kehlköpfe (zum Beispiel in der Antonsbasilika in Padua) oder Zungen, Blutstropfen, Gewandstücke, Gürtel (wie der der heiligen Maria), Folterwerkzeuge und so weiter. Besonders bedeutende Reliquien sind zum Beispiel die Dornenkrone Christi in Paris, die Krippe Jesu in Santa Maria Maggiore, die Heilige Stiege aus dem Palast des Pontius Pilatus, über die Jesus gegangen sein soll und die nun in Rom steht, das Turiner Grabtuch, die Windel Jesu in Aachen und natürlich die zahlreichen, über die ganze Erde verteilten Partikel des Kreuzes Jesu. Da kommt man nicht umhin zu fragen: Was soll das alles? Ist es nicht fast ein wenig geschmacklos, den Kehlkopf und die Zunge des heiligen Antonius auszustellen?
Ganz ähnlich dachte Reformator Martin Luther, der die Reliquien als „alles tot Ding“ bezeichnete und sich besonders über den seinerzeit herrschenden Reliquienhandel ärgerte, bei dem zu horrenden Preisen Reliquien feilgeboten wurden, die kaum als echt betrachtet werden konnten. Einen ähnlichen Zorn empfand er über Legenden, die mit diesen Reliquien und ihren einstigen Eigentümern, den Heiligen, in Verbindung standen. Er nannte sie „Lügenden“ und prägte damit das bis heute vorherrschende Bild, Legenden seien erfundene Geschichten, die man zur Blendung der Massen erdichtete und
verbreitete.
Hält man sich die teils makaberen Geschichten vor Augen, scheint einzuleuchten, warum Martin Luther und andere solche Schwierigkeiten mit den Legenden hatten: Die hl. Katharina von Alexandria beispielsweise soll der Legende nach gerädert worden sein, nachdem sie die Frau des römischen Kaisers Maxentius zum Christentum bekehrt hatte. Kurz vor ihrer Hinrichtung erschien ein Engel, der das Rad zerschlug und dabei 4.000 Heiden tötete. Bei ihrer dann stattfindenden Enthauptung soll Milch statt Blut aus ihrem Hals geflossen sein. Ebenfalls enthauptet wurde der hl. Dionysos, der direkt nach seiner Hinrichtung seinen Kopf in die Hand genommen haben soll, um dann zu dem Ort zu gehen, den Gott als Platz seiner Bestattung ausersehen hat.Legenden – Lügenden?
Stehen solche Geschichten einer rationalen Auseinandersetzung mit Gott nicht eher im Wege? Ist der Glaube, Reliquien würde eine besondere Kraft innewohnen, nicht in Wahrheit Aberglaube? Eine Legende ist immer die Geschichte davon, wie durch das Leben eines Menschen Gott in der Welt wirksam geworden ist. Wenn wir uns heute erzählen, wie die Wunde der heiligen Katharina durch göttliche Intervention zur Quelle lebensspendender Milch wurde, machen wir implizit ein Glaubensbekenntnis: Ich glaube, dass Gottes Handeln in der Welt das menschlich Mögliche übersteigt, dass er aber durch die Menschen wirken möchte. Wir bekennen seine Allmacht und seine Zugewandtheit zu den Menschen, wir drücken aus, dass Gott auch in den Schrecklichkeiten menschlichen Lebens Wunderbares erreichen kann und möchte. Wenn wir eine Reliquie verehren, dann verehren wir nicht den Menschen, nicht den Leichnam, nicht das Stück Knochen. Wir verehren den, der durch diesen Menschen wirksam geworden ist.Reliquien – ein weiteres Symbol, dass Gott die Welt und seine Schöpfung begleitet und sich in ihr zeigt.
Denken wir an das Leben eines verstorbenen Menschen, der uns nahegestanden ist, machen wir uns diesen Menschen durch Geschichten aus seinem Leben gegenwärtig. Die Erzählung von Heiligenlegenden macht uns Gott gegenwärtig, da das Leben eines jeden Heiligen Zeugnis der Gegenwart Gottes in der Welt ist. Die heilige Katharina überzeugte mit philosophischem Scharfsinn die größten Denker des römischen Reiches, Christen zu werden, auch die kluge Frau des Kaisers. Doch es war im letzten nicht sie, die dies vollbrachte: Das Gute, das vom Menschen kommt, kommt immer von Gott. Durch die heilige Katharina wirkte Gott in der Welt.
Dass wir uns davon erzählen, wie ein Engel ihr Hinrichtungswerkzeug zerschlug und dabei das Leben von 4.000 Heiden beendete, soll zur Anschauung bringen, dass sich im Leben der Katharina Gottes Handeln wirkmächtig entfaltet hat. Dieses Faktum unseres Glaubens, dass Gott die Welt und seine Schöpfung begleitet und sich in ihr zeigt, bekennen wir in besonderer Weise im Leben der Heiligen. Deren sterbliche Überreste, die Reliquien, sind dafür ein weiteres Symbol. Was, könnte man fragen, unterscheidet denn Lenins Leichnam von dem eines Katakombenheiligen? Inwiefern ist der Totenkult ausgestorbener Stammesreligionen etwas anderes als die Wallfahrt zu den Reliquien des heiligen Antonius?
Das gleiche, was für Legenden gilt, lässt sich hier auch sagen. Es ist Gott, der in den Reliquien verehrt wird, nicht der Mensch. Und es ist der Glaube, dass Gott den Menschen zugewandt ist, der die Motivation für diese Verehrung ist. Dass wir uns eine besondere Hilfe erwarten, wenn wir vor der Reliquie eines Heiligen beten, bringt den Glauben zum Ausdruck, dass der Heilige bereits in der Einheit mit Gott steht, dass er nach dem Ende seines Lebens in Gottes Reich aufgenommen wurde. Wir verehren den heiligen Dionysos nicht wegen seiner Großtaten zu Lebzeiten. Wir verehren ihn, weil sich Gottes Großtaten durch ihn gezeigt haben. Wir rufen nicht die heilige Katharina als eine der 14 Nothelfer um Hilfe an, weil sie selbst in unserem Leben intervenieren kann, sondern weil Gott bereits durch sie Großes und Wunderbares vollbracht hat und er dies wieder tun will. Dies ist die Zusage Gottes an uns: „Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20). Dessen erinnern wir uns, das bekennen wir gläubig in der Verehrung von Reliquien, im Hören und Erzählen von Legenden.
Autor:Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt |
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