Erntedank und Friede
Freude in Fülle vor deinem Angesicht
Im Herbst danken wir Gott für die Gaben, die wir aus seiner Schöpfung empfangen dürfen. Gott aber gibt uns mehr als das Notwendige: Er lässt uns teilhaben an seiner Fülle.
Als sich der Göttervater Zeus als kleines Kind vor dem Zorn seines Vaters Kronos verstecken musste, wurde er von der Ziege Amaltheia genährt. Weil der junge Gott seine Kräfte nicht einschätzen konnte, brach er beim Spielen aus Versehen eines ihrer Hörner ab, aus dem sich eine Fülle von Nahrung ergoß. So erklärt der Mythos die Herkunft des Füllhorns, jenes mythologischen Symboles, das bis heute für Reichtum, Überfluss, kurz: Fülle, steht.
Seit der Antike findet dieses Symbol Verwendung in der Kunst, sei es in Architektur, Bildhauerei oder Malerei. So zum Beispiel im Bild der Malerin Élisabeth Vigée Le Brun, in der die allegorische Darstellung des Friedens die Allegorie des Wohlstands, ein Füllhorn haltend, zu führen scheint. Die Botschaft ist klar: Frieden bringt Wohlstand in eine von Krieg zerrüttete Region, ein Land oder eine Stadt – der Friede bringt die Fülle.
Ein Leben in Fülle
Dass das tatsächlich so ist, haben wir in den letzten Jahren wieder verstärkt gemerkt: Die Krisen der Welt gehen auch am Wohlstand Österreichs nicht spurlos vorüber. Und umgekehrt: Dass Österreich so wohlhabend ist, hat es dem so lange andauernden Frieden in Europa zu verdanken. Der militärische Friede sichert also unseren materiellen Wohlstand. Doch wie steht es um den geistigen Wohlstand, die seelische Fülle?
Zu Beginn des Johannesevangeliums schreibt der Evangelist über Christus: „Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade“, fast als wäre Jesus eben jenes Füllhorn, aus dem die Fülle der Gnaden auf uns fließen würde. Der Begriff, den Johannes im griechischen Original für Fülle verwendet, lautet „Pleroma“ – ein Wort, das in der Theologiegeschichte vielfältig interpretiert wurde. Der heilige Hippolyt verwendet es zum Beispiel als Beschreibung für eine vollendete Welt. Dieser Deutung zufolge ist Christus derjenige, aus dem diese vollendete Welt erflossen ist, er ist sozusagen das Füllhorn der Vollendung.
Nach dem Eucharistischen Hochgebet bitten wir Gott um seinen Frieden.
Der Spätsommer, die Erntezeit, ist traditionell eine Zeit des Dankens. Gott zu danken für das Notwendige, das wir zum Leben brauchen, das tun wir zu Erntedank: der Dank für die Schöpfung, für die Früchte der Erde, für den Planeten, den wir zur Erhaltung unseres Lebens bewirtschaften dürfen. Aber unser Dank erstreckt sich über das Notwendige hinaus auf das, was nicht nur sozusagen die Grundversorgung abdeckt: Gott will uns an der Fülle seiner selbst teilhaben lassen – er ruft uns zur Vollendung.
Aber was heißt das? „Als Christus geboren wurde, verkündeten Engel den Frieden auf Erden.“ Das spricht der Priester in der Weihnachtszeit nach dem Vater unser, um zum Friedensgebet überzuleiten. Dass wir uns an dieser Stelle der Messfeier an den Frieden erinnern, den Gott mit der Geburt seines Sohnes der Welt zuteil werden lassen wollte, ist nicht zufällig. Nach dem großen Dankgebet der Kirche, dem Eucharistischen Hochgebet, bitten wir Gott um seinen Frieden und bieten ihn gleichzeitig jenen an, die um uns herum sind. Nachdem wir Gott für das Opfer seines Sohnes gedankt haben, dafür, dass er die Fülle der Vollendung uns zuwendet, bitten wir um seinen Frieden, im Glauben, dass Friede und Fülle in einer unzertrennlichen Verbindung stehen.
Es zeigt sich hier ein doppelter Sinn: Dass die Fülle des menschlichen Lebens nicht nur in der bloßen Erwirtschaftung materiellen Wohlstandes besteht, sondern in der Wahrung und der Pflege des Friedens auf Erden und mit der Erde besteht, was sich in jenem liebevollen Verhältnis zur Schöpfung und unseren Mitmenschen, zu dem Jesus immer wieder ermahnt, äußert. Zum anderen verweist die Verbindung von Fülle und Friede auf jenen Zustand, zu dem Gott uns nach unserem Leben auf Erden rufen möchte. In den Psalmen wird es beschrieben als „Freude in Fülle vor deinem Angesicht“, der heilige Augustinus bezeichnet es als Gottesruhe. Es ist jener erfüllte, friedliche Zustand in der Vereinigung mit Gott, zu dem er uns rufen möchte. Matthias Wunder
Autor:Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt |
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