Interview
Weltanschauungs-Markt: vielfältiger und unüberschaubarer
Die gebürtige Oberösterreicherin Mag. Ulrike Schiesser ist Geschäftsführerin der Bundesstelle für Sektenfragen, in der sie seit 2009 mitarbeitet. „Kirche bunt” bat die Psychotherapeutin und Psychologin zu Änderungen bei den Weltanschauungen in der letzten Zeit zum Interview.
Die Bundesstelle für Sektenfragen gilt als ziemlich einzigartig. Was ist deren Aufgabe?
MAG. ULRIKE SCHIESSER: Die Bundesstelle für Sektenfragen ist eine staatliche zentrale Informations- und Beratungsstelle zu „sogenannten Sekten“ und Weltanschauungsfragen und besteht seit 25 Jahren. Sie ist europa- und weltweit fast einzigartig, da das Thema Religion sonst eher als Privatsache angesehen wird. Aber der Glaube kann auch zu Abhängigkeiten und Verletzungen führen. Häufig thematisierte Bereiche sind alternative religiöse Bewegungen, Esoterik, spezifische Angebote zur Lebenshilfe, Geist- und Wunderheilungen, radikale und extremistische Ideologien, Guru-Bewegungen, Okkultismus, Apokalypse und Weltuntergang und Staatsverweigerer. Ein Wort zum Namen der Bundesstelle: Den Begriff „Sekte“ verwenden wir nicht, wir sprechen von „vereinnahmenden Gemeinschaften“ bzw. „Gemeinschaften mit einer sektenartigen Struktur“. Meist meldet sich das Umfeld von Betroffenen oder Menschen, die sich von solchen Gruppen gelöst haben. Kontakt: Tel. 01/5130460, E-Mail: bundesstelle@sektenfragen.at.
Warum sind für manche Menschen Sekten und ähnliche weltanschauliche Gruppen attraktiv?
Schiesser: Es gibt bei den Menschen verschiedene Bedürfnisse: nach Gemeinschaft, nach Anerkennung, nach Sinn im Leben, nach medizinischer Heilung, nach Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Da können diese Gruppen maßgeschneiderte Antworten geben. Die Großkirchen verlieren Mitglieder, aber die religiösen Bedürfnisse sind weiter da, es gibt sehr wenige echte Atheisten.
Was suchen Menschen in derartigen Gruppen?
Schiesser: Man muss verstehen, warum Menschen zu diesen Gemeinschaften gehen. Es gibt immer Elemente, die auch gut tun – etwa Meditationen – und man muss keine bestimmten Fähigkeiten haben, um beizutreten, wie etwa bei Vereinen. Es können enge soziale Bindungen entstehen, die glücklich machen.
Diese Angebote klingen ähnlich wie jene der anerkannten Religionsgemeinschaften.
Schiesser: Problematisch wird es dann, wenn Machtstrukturen und Abhängigkeiten eine große Rolle spielen. Die Dimension der Spiritualität unterscheidet außerdem solche Gruppen zu nichtreligiösen Gemeinschaften, Machtmissbrauch ist hier häufiger. Gefährlich wird es, wenn Menschen manipuliert und emotional erpresst werden und ein wir-drinnen und die-draußen herrscht. Die Großkirchen verlieren Mitglieder, aber die religiösen Bedürfnisse sind weiterhin da. Es gibt kaum echte Atheisten. Manche Rituale sind nicht für jeden geeignet und können Traumata und Alpträume verursachen. Krisen können in solchen Gruppen verschärft werden und Stress auslösen. Es ist auch ein Problem, wenn medizinische Behandlung abgelehnt wird. Gefährlich ist es, wenn man die eigene Lehre in extremer Form zu hundert Prozent umsetzen will.
Welche Probleme bringen die veränderten Zeiten mit sich?
Schiesser: Bei den sogenannten Zivilisationsbeschwerden zeigt sich, dass Schlafstörungen, Stress, Erschöpfung, die aufgrund der hohen Erwartungen der Gesellschaft an den Einzelnen und des hohen Tempos der Informationsflut viele Menschen überfordern und überlasten und „Selbstoptimierung“ ein großes Thema sind. Scharlatane bieten für all diese Probleme scheinbar einfache Antworten.
Welche Kriterien gibt es, um zu erkennen, dass Gruppen negativ vereinnahmen können?
Schiesser: Wenn Gruppen für sich in Anspruch nehmen, die absolute Wahrheit zu haben. Wenn sie eine starre Außengrenze aufbauen. Isolieren sich die Gruppen? Dürfen Mitglieder noch außerhalb Freunde haben? Andere abzuwerten ist ein drittes Kriterium. Oft sehen solche Gemeinschaften entweder schwarz oder weiß. Viertens ist zu fragen, wie mit Kritik umgegangen wird, wenn die Leitung oder am System kritisiert wird. Wird das sanft zurückgewiesen oder brutal – etwa mit den Worten „Du bist ein Agent des Bösen“ oder „Aus dir spricht Satan“? Und ein fünftes Kriterium ist: Wie stark beeinflusst die Gemeinschaft den Alltag von Menschen, etwa bei Kleidung, Sexualität oder Essen.
Versuchen auch andere Organisationen zu kontrollieren?
Schiesser: Ja, auch z. B. Unternehmen oder Vereine versuchen, Einfluss auf den „Way of life“ zu nehmen. Aber wie gesagt, durch die Glaubensdimension ist der Einfluss viel stärker. Wichtig kann aber auch bei spirituellen Gemeinschaften wie bei Unternehmen das Thema Geld sein. Schon mit geringer Bildung kann dabei viel verdient werden. Vielfach gibt es keine oder kaum Qualitätskontrollen, etwa bei Energetikern oder Lebenshilfe-Angeboten. Es gibt etwa die Versprechen, Kontakt zum verstorbenen Vater gegen Geld herzustellen oder Krankheiten zu heilen und ein Trauma zu „löschen“.
Haben die sektenähnlichen Gruppen zugenommen?
Schiesser: Das können wir nicht sagen, weil es keine sicheren Zahlen dazu gibt. In der Bundesstelle für Sektenfragen haben wir jährlich Anfragen zu etwa 250 Gruppen und Einzelpersonen. Die Großgruppen wie in den 1980er-Jahren gibt es eher nicht mehr, es braucht aber auch keine große Gemeinschaft, um Abhängigkeit zu erzeugen. Die Gemeinschaften sehen sich oft als Eliten, die überlegene Antworten haben. Es ist wie eine Warenkorb-Mentalität bei den Konsumenten.
Es gibt bei den Menschen verschiedene Bedürfnisse: nach Gemeinschaft, nach Anerkennung, nach Sinn im Leben.
Ein Satz zur katholischen Kirche: Auch hier können Einzelne negative Macht ausüben, aber in diesem System gibt es Kontrollinstanzen.
Weiters ist zu sagen, dass in unserer Erfahrung in vereinnahmenden Gruppen eher Menschen ab 30 Jahren angesprochen werden, denn diese haben mehr Geld als Jüngere. Jüngere können aber durchaus auch von Missionsversuchen von sektenähnlichen Gruppen betroffen sein und wenn Eltern als Teil einer sektenartigen Gemeinschaft extrem eingebunden sind, dann müssen die Kinder mitunter auch in einer Parallelwelt leben.
Gibt es Menschen, die besonders gefährdet sind?
Schiesser: Nein, es gibt eher keine bestimmten Zielgruppen, die anfällig sind, Sekten beizutreten. Vielmehr sind es Lebensphasen: wenn die Kinder das Haus verlassen oder wenn man erkrankt. Kirchen, Vereine oder Dorfgemeinschaften können Sinn geben, wo es diese nicht gibt, wird nach Alternativen gesucht.
Die Vielfalt der Gruppen wird auf jeden Fall bunter und unüberschaubarer. Die Esoterik ist stark Ich-fokussiert. Es geht um Selbstoptimierung und das persönliche Glück. Bei den großen Weltreligionen hingegen geht es auch stark um die Gemeinschaft und dass man sich selbst zugunsten dieser ein Stück weit zurücknehmen muss. Auch Mitgefühl und „für andere da sein“ haben dabei immer einen sehr zentralen Stellenwert.
Wenn Freunde und Angehörige erkennen, dass jemand in eine solche Gruppe hineingerät – was würden Sie raten?
Schiesser: Anfangs sind diese noch für Argumente empfänglich. Später muss man mit der Kritik präzise sein und darf nicht abwertend sein. Es ist hilfreich zu fragen und nicht lehrhaft zu predigen. Etwa: Wo helfen sie dir? Wichtig ist es also, zu reden.
Ist es schwer, eine sektenähnliche Gruppe zu verlassen?
Schiesser: Man wird nicht mit Gewalt daran gehindert, sondern mit subtilen Drohungen. Die Menschen haben Angst, für diesen Schritt metaphysisch bestraft zu werden. Sie haben vielleicht viel investiert und wollen nicht, dass das umsonst war. Sie würden alle sozialen Kontakte in der Gruppe verlieren, da mit Aussteigern üblicherweise jeder Kontakt abgebrochen wird.
Welche Buchtipps können Sie unseren Lesern empfehlen?
Schiesser: Gute Bücher, die verständlich geschrieben sind, sind: Eckhart von Hirschhausen, „Wunder wirken Wunder. Wie Medizin und Magie uns heilen“; und Holm Gero Hümmler, Ulrike Schiesser, Springer Verlag, „Fakt und Vorurteil: Kommunikation mit Esoterikern, Fanatikern und Verschwörungsgläubigen“.
Interview: Wolfgang Zarl
Autor:Wolfgang Zarl aus Niederösterreich | Kirche bunt |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.