Erzählung von Paul Sieberer
Marcel, Markus und Maria

Foto: Barabas Attila – stock.adobe.com

Marcel hat sein Mikrofon bereits vorbereitet. Herr Holm wohnt seit Jahren im Pflegezent­rum und genießt die Fürsorge, mit der er hier betreut wird. Marcel benötigt dieses Interview für ein Projekt im Rahmen seiner Firmvorbereitung.

Seine erste Frage lautet: „Wie oft bekommen Sie Besuch?“ Herr Holm hält inne, atmet tief ein und meint schließlich: „Mein Sohn ist vielbeschäftigt. Er hat einen verantwortungsvollen Beruf.“ Das ist die Antwort. Mehr kommt nicht. Marcel vermutet, dass er ein heik­les Thema angesprochen hat. Trotzdem fragt er weiter: „Gibt es noch jemanden, der sie besucht?“ Die Antwort fällt noch knapper aus: „Nein, da ist keiner.“ Herr Holm nimmt einen Schluck Tee. Das gibt Marcel Zeit, auf seinen Vorbereitungszettel zu blicken: „Haben Sie regelmäßig telefonischen Kontakt mit … mit Ihrem Sohn … oder skypen Sie?“ Die Blicke der beiden treffen sich. Für eine Sekunde hat Marcel das Gefühl, dass sein Gegenüber nasse Augen bekommt.

„Und du wirst also heuer gefirmt?“, lenkt Herr Holm das Gespräch auf ein anderes Thema. „Ja, wenn alles gut geht“, antwortet der Junge. Und weil sich die Stimmung einfach nicht aufhellen lässt, entscheidet Herr Holm, seine Karten auf den Tisch zu legen: „Pass auf! Du kannst in deinem Interview schreiben, dass ich meinem Sohn nicht böse bin. Er hat sein eigenes Leben, seine eigenen Aufgaben und er vertritt andere Meinungen! Schreib bitte, dass ich gesagt habe, dass die Mutter Gottes mein Vorbild ist. Im Markusevangelium steht: ,Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und suchen dich.‘ Und Jesus erwidert: ,Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?‘ Also: Ich werde meinen Sohn lieben, ob er mich nun sehen will oder nicht!“
Marcel spürt, dass sich Herr Holm ganz geöffnet hat. Nun haben beide Tränen in den Augen. Ein stummer Händedruck beendet das Interview.

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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