Wort zum Sonntag von Josef A. Steidl
Liebe übersteigt Gebote
Die Falle ist aufgespannt, das Bein zum Stolpern-Lassen ausgestreckt: Der Pharisäer, der „Glaubensspezialist“, hat eine einfach scheinende, aber verfängliche Frage gestellt: „Welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?“ Ob sich dieser seltsame Wanderprediger verfangen wird? Angesichts der Vielzahl der jüdischen Ge- und Verbote ist ein Vertun leicht möglich. Doch Jesus schlägt ihn mit seinen eigenen Waffen. Er zitiert aus der Thora einen unangreifbaren und zentralen Gedanken: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allen Gedanken.“ (Deuteronomium 6,5) Dagegen kann der Pharisäer nichts sagen, das ist auch Grundlage seines täglichen Strebens nach Vollkommenheit vor Gott. Das ist auch sein tägliches Morgen- und Abendgebet, jedem gläubigen Juden auf das Herz geschrieben.
Zerbrechen einer vermeintlichen Heilsgewissheit
Doch Jesus setzt nach. Diesem „wichtigsten und ersten Gebot“ stellt er ein zweites als ebenbürtig an die Seite: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Levitikus 19,18) Der Satz trifft den Vorzeige-Frommen empfindlich, denn Jesus stört das perfekte System der Erfüllung der 248 Gebote und 365 Verbote samt ihrer Ausführungsbestimmungen. Er beraubt den Pharisäer des anstrengenden, aber auch sicheren Heilssystems von Anordnung und strikter Befolgung. Jesus verlangt, sich vom puren Gesetzesbuchstaben abzuwenden und den Nächsten mit ins Blickfeld zu nehmen – und zwar als Mensch und nicht bloß als Adresse gebotener Almosen. Das bringt Unwägbarkeiten, fordert genaues Hinsehen und vor allem persönliche Entscheidungen, die nicht immer von überlieferten Paragrafen vorgegeben sind. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter ist dazu die kritische Veranschaulichung.
Der Pharisäer muss zutiefst erschrocken sein: Sein ganzes Lebensgefüge, das auf der eisernen Befolgung der Gebote basiert, wird aufgebrochen – und das noch aus der Tora heraus begründet, also mit Gottes Wort. Der fromme Blick soll nicht mehr nur himmelwärts wandern, sondern muss nun auch horizontal ausgerichtet werden: Wo ist mein Nächster, wie geht es ihm?
Aufschrecken müssen auch die Christen unserer Tage: Wie stehen sie zu Jesu Doppelgebot der Liebe? Ist das religiöse Leben fixiert auf die sonn- und feiertäglichen Gottesdienste, auf die im festen Rhythmus wiederkehrenden Spendensammlungen? Unterscheidet man sich damit von jenen Zeitgenossen, die ganz trendig einen Glauben an etwas Überirdisches, an ein unbestimmtes transzendentes Wesen einräumen, aber daraus kaum Konsequenzen für ihr sittliches und mitmenschliches Handeln ziehen? Die Abwendung von einem personalen Gott, den man lieben kann und muss, passt gut zur modischen Hinwendung an den Buddhismus mit seinen Hilfestellungen zu Selbstheilung und Selbsterlösung.
Wer sich als von Gott geliebt erkennt, der weiß, was zu tun ist
Doch auch Jesus vergisst den Einzelnen nicht: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Diese Koppelung beschreibt Ausmaß und Grenze des Liebens. Jeder muss auch seine Person, seine Situation und sein Wohl im Auge haben. Es geht um die richtige Balance, also weder mit seiner Liebe zu knausern, noch sie im Überschwang zu verteilen. Wer mit sich selbst nicht im Reinen ist, kann sich schwerlich dem anderen in rechter Weise zuwenden. Und wer sich als von Gott geliebt erkennt, für den ist die Frage einer „Hitparade“ der Gebote nachrangig; er weiß, was zu tun ist. Josef A. Steidl / KNA
Autor:Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt |
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