Wort zum 1. Adventsonntag - von Diözesanbischof Dr. Alois Schwarz
Gott in den Augen der anderen
Man kann die Texte des heutigen Evangeliums als Bilder einer seelischen Not verstehen. Wir hören von Menschen, die in ihrem Herzen Finsternis erleben, die mit dem Gefühl leben, dass ihnen alles zusammengebrochen ist. Sie haben nichts, worauf sie hoffen können. Menschen leben in der Angst, dass alles bald zugrunde gehen wird. In so eine Situation kommt der „Menschensohn“, wie Jesus sich hier selber bezeichnet: Er wird alle Geretteten sammeln. In diese Bedrängnis hinein kommt der Retter. Das erinnert an den Dichter Hölderlin, wenn er schreibt: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Auch heuer, nach den Terrorkatastrophen und den Klimakatastrophen, während der vielen Herausforderungen der Corona-Pandemie, begleitet durch Krankheit und Tod, braucht es eine neue Form der Wachsamkeit.
Manchmal erleben wir eine Situation so, als habe uns Gott verlassen. „Es ist wie mit einem Mann, der sein Haus verließ, um auf Reisen zu gehen. (…) Dem Türhüter befahl er, wachsam zu sein.“ (Mk 13,34) Wer macht für uns diesen Dienst der Wachsamkeit? ER soll uns bei seiner Rückkehr nicht schlafend antreffen.
Jesus hat seine Jünger vor Augen, wenn er vom Wachsam-Sein spricht. Schlafen sie? Schläft die Kirche heute? Sie schläft dann, wenn sie nicht mehr mit Gott und seinem Kommen rechnet.
Manchmal haben wir die Augen zu und wollen gar nicht wahrnehmen, was um uns herum geschieht. Wir sind zwar wach, aber innerlich gar nicht präsent. Manchmal schließen wir die Augen und wollen nicht hinsehen, was sich gerade tut. Wir spüren nicht mehr, dass Jesus jederzeit bei uns anklopfen kann. Wir verschließen die Augen und ignorieren, dass auch uns Krankheit, Veränderung, Not und Sorgen treffen können.
Wenn wir nun so viel Abstand zueinander halten müssen, dann besteht die Gefahr, dass die Menschen auch zu Gott einen großen Abstand halten. Gott will aber zu uns kommen und dem Menschen nahe sein. Wir haben einen Gott der Nähe, der bei uns sein möchte. Das ist nicht leicht zu begreifen und schon gar nicht in einer Zeit, wo wir lernen sollen, einander physisch fern zu bleiben. Die Corona-Pandemie verlangt von uns einmal mehr, dass wir mit den Menschen auf physische Distanz gehen sollen.
ER soll uns bei seiner
Rückkehr nicht schlafend
antreffen.
Hinzu kommt, dass wir einander nicht mehr von Angesicht zu Angesicht begegnen können, sondern unsere Begegnungen sich auf den Blickkontakt beschränken. Es ist eine enorme Beeinträchtigung im Vergleich zu dem, wie wir einander in der Zeit ohne Mund-Nasen-Schutz und den dazugehörigen Abstandsregeln begegnet sind. Vielleicht ist es endlich an der Zeit, zu spüren, was es heißt, einander mit eingeschränkten Sinnen zu begegnen. Ich denke an all jene Menschen, die auf Grund einer Sinnesbeeinträchtigung gelernt haben, ihre anderen Sinne zu schärfen, um so die Kommunikation zu anderen aufrecht zu erhalten.
Lernen wir, unsere Blicke wachsam dorthin zu fokussieren, wo wir dem Guten begegnen, wo wir einander helfend zur Seite stehen oder wo wir die Not der anderen Menschen wahrnehmen.
Erleben wir das Leuchten in den Augen des Anderen und der Anderen, aber auch die Tränen oder das Leid. Schärfen wir unseren Blick füreinander, damit Jesus in unserer Zeit – trotz Krankheit, Leid und Tod – lebendig werden kann. Vieles an Brauchtum und Traditionen, das uns bisher im Advent vertraut war, geht heute so nicht. Dennoch dürfen wir eine neue Erfahrung in der Begegnung mit anderen machen: In den Augen des anderen die Liebenswürdigkeit unseres Gottes entdecken.
Wir müssen Abstand halten und hören die Zusage des Apostels Paulus: „Treu ist Gott, durch den ihr berufen worden seid zur Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus, unserem Herrn.“ (1 Kor 1,3-9)
Ich lade Sie ein, liebe Leserin, lieber Leser, wachsam darauf zu achten, wo Gott sich in diesem Advent Ihnen in Ihrem Alltag und vor allem in den Blickkontakten mit Menschen zeigen möchte.
Autor:Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt |
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