Welt-Alzheimertag am 21. September
„Was uns Demenz über Liebe sagt“

„Das Erinnern gibt uns unser Selbstwertgefühl, unser Narrativ, unsere Identität.“ | Foto: bilderstoeckchen – stock.adobe.com
  • „Das Erinnern gibt uns unser Selbstwertgefühl, unser Narrativ, unsere Identität.“
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Unter dem Pseudonym Nicci French veröffentlicht die britische Autorin Nicci Gerrard sonst erfolgreiche Krimis und Thriller. Nun hat sie aus familiärer Betroffenheit ein berührendes Buch über Demenz geschrieben. Ein Bericht zum Welt-Alzheimer-Tag am 21. September.

Was passiert, wenn unsere Erinnerungen verloren gehen? Wer sind wir dann? Es sind schmerzliche Fragen, mit denen Nicci Gerrard bei ihrem Vater konfrontiert wird. Sie hat seine letzten Lebensjahre erlebt und auch die von anderen von Demenz betroffenen Menschen verfolgt. Nun hat die britische Journalis­tin und Krimiautorin ihre Eindrücke in einem sehr persönlichen, berührenden Essay „Was uns Demenz über die Liebe sagt“ niedergeschrieben.

Sie beschreibt darin nicht nur den schleichenden Abschied von ihrem Vater. Er war fort und doch noch da, abwesend und doch machtvoll gegenwärtig. Sie lässt den letzten Urlaub mit ihm Revue passieren, etwa den Moment, als der alte Mann in der Abenddämmerung ver­gnügt singend in einem See schwamm. Doch gleichzeitig wirkte die Szene furchtbar einsam, „als wäre auf der Welt niemand mehr übrig geblieben als mein Vater im Halbdunkel, in der überwältigenden Stille …“ In ihrer Erinnerung an seinen Frieden dort im weichen Abendlicht und an jenes geheimnisvolle Verschmelzen des Selbst mit der Welt soll dieses Bild jene schweren Erinnerungen überlagern, die seine letzte Lebensphase beinhaltete.

Sorgsam und nie sorgenfrei

„Das Erinnern gibt uns unser Selbstgefühl, unser Narrativ, unsere Identität“, meint Gerrard. Mit dem schleichend einsetzenden Prozess des geistigen Niedergangs und dem Übergang von Zerstreutheit in Verlorenheit finde ein stummes Verlöschen statt.

Mit ihrem Schicksal als betroffene Angehörige ist Gerrard nicht allein. Laut WHO leben weltweit rund 47 Millionen Menschen mit Demenz, Tendenz steigend. Die Krankheit wird als tickende Zeitbombe bezeichnet. „Dabei ist diese Bombe längst explodiert“, schreibt die Autorin: „Aber leise, unter Verschluss, ungesehen: ein Zerstörungswerk im Verborgenen.“ An Demenz erkrankte Menschen verschwänden oft aus dem Blickfeld – und mit ihnen jene, die sich um sie kümmern.

Dabei sei allein in ihrer britischen Heimat einer von acht Erwachsenen ein Pflegender. Pflegen heißt für jemanden sorgen. Sorgsam sein, niemals sorgenfrei oder unbesorgt, weiß die Autorin. Für manche sei diese Zeit eine bereichernde Erfahrung, andere sprächen von Verzweiflung und der Erosion des eigenen Selbst.
Ihr Buch schaut genauer hin: Was bedeutet Demenz für die Erkrankten und für jene, die sie lieben und begleiten? Gerrard lässt unter anderem Schilderungen von Pflegekräften, Medizinern und Therapeuten, Künstlern und Literaten einfließen. Zugleich fällt es ihr nach eigenem Bekunden schwer, „das miterlebte Verschwinden von Sprache und Persönlichkeit adäquat zu artikulieren, Worte versagen“.

Einerseits beobachtet Gerrard eine positive Veränderung in der öffentlichen Wahrnehmung: „Viele Initiativen und Organisationen kümmern sich inzwischen um demente Menschen; neue, fantasievolle therapeutische Ansätze entstehen. Andererseits werden die Seelennot und Einsamkeit der in sich selbst Versunkenen noch immer vielfach übersehen.“

Der Umzug in ein Heim verschlimmert aus Gerrards Wahrnehmung die Verzweiflung vieler Betroffener. Demente Menschen bräuchten einen sicheren, geborgenen Ort, wo ihre gefühlte Irrfahrt ein Ende haben kann. Ein Heim dagegen bedeutet in vielen Fällen keineswegs Sicherheit, sondern oftmals Heimatlosigkeit. Ebenso existenzerschütternd sei für demente Menschen oft ein Krankenhausaufenthalt. So auch bei Gerrards Vater, der nach einer Routinebehandlung fünf Wochen in der Klinik bleiben musste und durch einen Norovirus-Ausbruch keinen Besuch bekommen durfte und oft mutterseelenallein gewesen sei. Als er schließlich entlassen werden konnte, sei er zum Skelett abgemagert und bewegungsunfähig gewesen und bald darauf zu Hause gestorben.
Gemeinsam mit einer Freundin gründete Gerrard „John’s Campaign“ – eine nach ihrem Vater benannte Initiative. Ziel ist es, dass demente Menschen sich in Kliniken gut aufgehoben fühlen. Angehörige sollen auf den Stationen willkommen sein, und sie sollen während des Krankenhausaufenthaltes bei den häufig verunsicherten Patienten bleiben dürfen. Schon wenige Jahre später habe sich jede britische Akutklinik der Aktion angeschlossen, schreibt die Autorin. Ihr Plädoyer: „Menschen, die mit Demenz leben, müssen mehr denn je mit Respekt und Würde behandelt werden, denn die Schutzschicht, die ihr verletzliches und verängs­tigtes Selbst umhüllt, ist dünn.“ Auch mit Demenz hält Gerrard ein lebenswertes Leben für möglich – geprägt von liebevoller Freundlichkeit, Verbundenheit, Ermutigung und Wertschätzung. Bis zum Schluss seien von Demenz Betroffene Menschen mit einzigartigen Bedürfnissen, Wünschen und Vorlieben.

Gerrards Buch ist bei aller Schwere des Themas fast schon poetisch – warmherzig und wehmütig zugleich. Zugleich regt es an, sich selbst jenen großen Fragen des Lebens zu stellen, die die Autorin anklingen lässt: Was bedeutet es, ein Ich, ein Mensch, zu sein?, Ist ein Mensch ohne Erinnerung weniger wert und sein Leben weniger wertvoll? Und: Wenn wir das Gefühl für unser Selbst verlieren …, verlieren wir dann tatsächlich auch unser Selbst? Unseren Wert? Unseren Daseinsgrund?

Nicci Gerrard: Was Demenz uns über die Liebe sagt, Verlag C. Bertelsmann, München 2021, 316 Seiten, 20,60 Euro.

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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