Erzählung
Nicht Sieger und Besiegte
Mein Urgroßvater war gegen Ende des Krieges längst über fünfzig und nicht im Fronteinsatz. Er bewirtschaftete mit seiner Familie einen kleinen Bauernhof. Drei Töchter waren ihm geboren worden und ein Sohn. Letzterer war inzwischen zum Kriegsdienst verpflichtet worden. Zudem hatte er einen französischen Landarbeiter zugewiesen bekommen: Der Mann erwies sich als brauchbar am Hof und auf dem Feld. Stammte der junge Familienvater doch selbst von einer Landwirtschaft. Gewiss hätte er lieber die eigene Erde beackert als hier im Feindesland zur Zwangsarbeit verurteilt zu sein.
Mein Urgroßvater indes ging spätabends nach getaner Arbeit einer fragwürdigen Beschäftigung nach: Er hörte Radio. Das wäre an sich nichts Ungewöhnliches gewesen, hätte er dem Deutschlandsender oder dem weithin empfangbaren Reichssender Breslau gelauscht; doch mein Urgroßvater hörte alliierte Sender. Feindsender. Nach dem sogenannten „Heimtückegesetz“ konnte darauf sogar die Todesstrafe stehen, sofern man sich erwischen ließ oder die kolportierten Meldungen verbreitete.
Mein Vorfahr aber behielt das Gehörte für sich und weihte bloß seinen Landarbeiter ein. Statt Siegesmeldungen oder Durchhalteparolen zeichneten die alliierten Sender ein ungeschminkteres Bild der Lage. Da war gewiss von Niederlagen der deutschen Wehrmacht und dem Heranrücken des Feindes die Rede. Was für viele im Deutschen Reich die nahende Katastrophe ankündigte, galt den Unterdrückten als Hoffnungsschimmer: Das Vorrücken der Roten Armee. Als „der Russe“, wie es umgangssprachlich hieß, schließlich hier war, drehten sich die Machtverhältnisse um: Aus „Herrenmenschen“ wurden Besiegte, aus Zwangsarbeitern wieder freie Menschen.
Urgroßvaters Landarbeiter aber suchte noch einmal seinen vormaligen Herrn auf, um sich von ihm per Handschlag zu verabschieden. Diese für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Geste, mutmaßte mein Urgroßvater später, war wohl Ausdruck der Dankbarkeit für die ihm übermittelten Nachrichten. Wie sehr mochten sie dazu beigetragen haben, fern der Heimat, inmitten der Kriegswirren seinen Lebensmut zu erhalten?
Jedenfalls standen einander in diesem Augenblick wohl nicht Sieger und Besiegter gegenüber, sondern bloß Familienväter, einfache Bauern – Menschen.
Kurt Neumeyr
Autor:Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt |
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