Erzählung
Es ist nie zu spät

Foto: watman – stock.adobe.com

Mit 49 Jahren beschloss Herbert, dass nun die Zeit gekommen war, um das Geigespielen zu erlernen. Die Kinder waren außer Haus, alle anderen Freizeitaktivitäten verliefen in ruhigen Bahnen. Somit kaufte er sich fünf Tage vor seinem 50. Geburtstag eine Geige, einzig mit Hilfe der Beratung im Musikgeschäft. Die ersten Versuche startete er Zuhause, einfach so, mit sich selbst und der Katze als einziger Zuhörerin, die jedoch bald in ein anderes Zimmer zum Schlafen ging. Seine Frau wechselte bei seinen Übungen ebenfalls unauffällig den Raum.
„Ich habe schlechte Erfahrungen mit Erwachsenen, die ein Instrument erlernen, also weiß ich nicht, ob das mit der Stunde etwas wird.“ So startete die Musiklehrerin der Musikschule ihr Gespräch. Einerseits schockierte diese Aussage Herbert. Auf der anderen Seite wollte er ihr beweisen, dass man auch gute Erfahrungen machen kann.
Sie begann ihren Unterricht ohne Kommentar und gab ihm ein Heft für Anfänger. Herbert quälte sich durch die Übungen und Tonleitern. Spaß machte es kaum. Sobald er sich freute, ein Stück zu beherrschen, ging die Lehrerin kommentarlos zum nächsten über.
Herbert erlernte das Instrument einzig für sich alleine, weil er spielen wollte. An manchen Tagen quälte er sich mit jedem einzelnen Ton und hatte das Gefühl, sich alle Finger zu brechen. Und dann gab es Tage, wo die Finger nur so über das Griffbrett flogen.
Am Ende des zweiten Lernjahres waren die Musiklehrerin und Herbert schon gute Freunde. Er erkundigte sich nach ihren Kindern und ihrem Stress mit anderen Schülern. Und sie fragte nach seinem Garten und seinen Wehwehchen. Und dann plötzlich entschuldigte sie sich. „Ich habe erkannt, dass du wirklich Geige lernen willst. Egal, wie schwer ich dir die Übungen gemacht habe, du hast alles geübt und dich nie beschwert. Ich habe ganz große Hochachtung vor dir. Du hast mir gezeigt, wie wichtig es ist, sich Träume zu erfüllen. Es ist nie zu spät dafür.“ An diesem Tag ging Herbert zufrieden von der Geigenstunde nach Hause. Diese Worte bedeuteten ihm mehr als jedes andere Lob. Karin Sieder

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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