Fasten2021 | Teil 07
Verzeihen und Vergeben
So schwer es auch fällt: Verzeihen bringt mehr Leichtigkeit als nicht zu verzeihen. Nichtvergeben verursacht Stress, Krankheiten oder einen Verlust der Lebensqualität. Vergeben ist zwar Schwerstarbeit, aber in allen Religionen ein göttliches Prinzip.
Der Umgang mit Schuld und Schuldgefühlen ist nicht einfach, sowohl für diejenigen, die Schuld zuweisen, als auch für jene, die beschuldigt werden und sich schuldig fühlen.
Im Verlauf dieser Fastenserie haben wir uns mit dem Wesen der Schuld, den Belastungen durch schuldhaftes Verhalten und den Reaktionen auf Beschuldigungen befasst. Der Fokus lag ganz auf der Seite derer, die Schuld auf sich geladen haben. Zum Abschluss wollen wir uns jenen zuwenden, die den Schuldigern vergeben, die also ursprünglich Opfer geworden sind, aber verzeihen wollen und die Kraft zur Vergebung suchen.
Nicht die Tat wird verziehen. Verzeihung heißt, dass eine Person, die sich geschädigt fühlt, auf den Schuldvorwurf und den Anspruch auf Wiedergutmachung verzichtet. Da es sich um einen innerseelischen Prozess handelt, kann man auch ohne Schuldbekenntnis und Reue des Täters verzeihen. Verzeihen, das nicht mit Vergessen, Verdrängen, Rechtfertigen oder Gutheißen verwechselt werden darf, setzt Empathie, Demut, Selbstsicherheit, Gelassenheit und ein positives Menschenbild voraus. In mehreren wissenschaftlichen Untersuchungen wurden die positiven psychischen Effekte des Verzeihens sowohl für die schädigende als auch die verletzte Person nachgewiesen. Für letztere geht es um die Befreiung aus der Opferrolle und das Loslösen von Gefühlen der Enttäuschung und des Zorns, der Rache und der inneren Aggressivität. Der Weg zur Vergebung, zu dem niemand gezwungen werden kann, ist aber nicht einfach. Denn es handelt sich um einen schmerzhaften Prozess, welcher besser zu bewältigen wäre, wenn die Täterschaft um Entschuldigung bittet. Verziehen wird ja nicht die Tat, die man wahrscheinlich nie vergessen kann, sondern man vergibt den Tätern.
Befreiung aus der Opferrolle. Echtes Verzeihen wird definiert als „mentale Bewältigung eines schmerzlichen Ereignisses“. Voraussetzung ist, sich als Opfer den erlittenen Schmerz bewusstzumachen, Trauerarbeit zu leisten, nicht im Selbstmitleid zu verharren und loslassen zu können. Diese gedankliche und emotionale Bewältigung von Ereignissen, die anfangs Ärger, Enttäuschung, Gekränktheit und Wut hervorgerufen haben, stellen eine psychologische Schwerstarbeit dar. Dies konnte sogar durch Untersuchungen des Hirnstoffwechsels nachgewiesen werden.
Ebenso wurde wissenschaftlich belegt, dass Vergeben über alle Alters- und Geschlechtsgruppen hinweg mit positiven Gefühlen, mit mehr Optimismus und Lebenszufriedenheit, mit psychischer Ausgeglichenheit und umfassendem Wohlbefinden verbunden ist. Hingegen kann das Nichtvergeben negativen Stress auslösen, was zu den bekannten Stresskrankheiten und zum Verlust der Lebensqualität führt. Entscheidend ist, dass man sich durch Verzeihen auch selbst vergibt. Denn man befreit sich nicht nur aus der Opferrolle, sondern löst ein bedrückendes Konglomerat aus Vorwürfen, Grübeleien, Ängsten, Schlafstörungen, aus Einengungen seiner Möglichkeiten und düsterer Färbung allen Erlebens auf.
Verziehen wird ja nicht die Tat, die man wahrscheinlich nie vergessen kann,
sondern den Tätern.
Reinhard Haller
„Vergebungstherapie“. Ein praktikables, auch außerhalb der Therapie verwendbares Konzept für den Weg zum Verzeihen hat der amerikanische Psychologieprofessor Robert Enright, Mitbegründer des „International Forgiveness Institute“, entwickelt. In den vier Schritten des bewussten Durchlebens der anfänglichen Kränkung, des Entschlusses zum Vergeben, des Verständnisses für den Schädiger und der Akzeptanz soll man befähigt werden, schmerzliche Gefühle loszulassen und durch Mitgefühl und Großzügigkeit zu ersetzen. Am Ziel der vier Stufen soll man zur Erfahrung gelangen, wie befriedigend das Loslassen schmerzlicher Gefühle und deren Ersatz durch Mitgefühl, Toleranz und Gelassenheit sein kann. Die von Enright geschaffene „Vergebungstherapie“ kommt bei Inzestüberlebenden, misshandelten Frauen, Alkohol- und Drogensüchtigen sowie Patienten in Hospizen erfolgreich zur Anwendung.
Ein ähnliches therapeutisches Verfahren ist die vom Berliner Psychotherapeuten Michael Linden für Patienten mit Verbitterungsstörungen entwickelte Weisheitstherapie. Das auf dem Weg zum Verzeihen in den letzten Jahren angewendete Modell „spirituell-therapeutischer Vergebungs- und Versöhnungsarbeit“ berücksichtigt neben der psychotherapeutischen auch die spirituelle Dimension des Verzeihens.
… sich als Opfer den
erlittenen Schmerz bewusst zu machen, Trauerarbeit
zu leisten, nicht im Selbstmitleid zu verharren und loslassen zu können.
Reinhard Haller
Vergebung als göttliches Prinzip. Vergeben bedeutet eigentlich noch mehr als Verzeihen. Denn Verzeihen heißt zwar, eine „Zeihung“ – also eine Beschuldigung – zurückzuziehen. Durch Vergeben wird dem Schädiger aber zusätzlich noch etwas gegeben, nämlich die Gabe des Ausgleichs, der Versöhnung und des Friedens. Vergebung, die reifste und edelste Form der Schuldbewältigung, ist in allen Religionen ein göttliches Prinzip. Sie ist aber nicht als ein Privileg Gottes zu betrachten, sondern als erstrebenswerte Tugend, die nach den Vaterunser-Worten „wie auch wir“ allen Menschen zuzutrauen ist.
So soll die Fastenserie mit jener Bitte abgeschlossen werden, in der alles umfasst ist, was ich Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, zu Schuld und Vergebung sagen wollte: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“.
Reinhard Haller im Gespräch
Über Schuldgefühle und Gelassenheit, Rache, Tabu und mehr sprach Reinhard Haller beim virtuellen Live-Gespräch mit den österreichischen Kirchenzeitungen. Sie können das Gespräch weiterhin ansehen.
Schuld und Vergebung
Serie in der Fastenzeit
Teil 7 von 7
Reinhard Haller nähert sich dem Phänomen „Schuld“ aus psychologischer Sicht, geht den Wurzeln der Schuldgefühle auf den Grund und erklärt, wie man sie überwinden kann.
Autor:Kooperationsredaktion aus Burgenland | martinus |
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