Fasten2021 | Teil 04
Schuld und Scham
Zwischen Scham und Beschämung liegen Welten. Während Scham aus dem Inneren kommt und die Aufgabe hat, die menschliche Würde zu wahren, kommt Beschämung von außen und ist eine destruktive Bloßstellung.
Wenn der Mensch Schuld auf sich geladen hat und sich schuldig fühlt, reagiert er auf verschiedene Weisen. Er kann die Schuldgefühle verdrängen, nach Ausreden suchen oder sie jemand anderem zuschieben. Oft wird er versuchen, sich zu ent-„schuldigen“ und Wiedergutmachung zu leisten oder sich durch Strafe und Buße zu befreien.
Manche Beschuldigte sinnen auf Rache, andere begeben sich in Therapie. Keinem Schuldigen bleibt es aber erspart, bewusst oder unbewusst Trauerarbeit zu leisten, das schuldhafte Verhalten zu reflektieren und zu versuchen, sich zu rehabilitieren. Bei fast allen schuldig gewordenen Menschen stellt sich ein ganz besonderes Gefühl ein, jenes der Scham.
Peinvolle Scham. Scham wird definiert als das Erleben von Zurückweisung und Missachtung, die der Mensch in einer Situation besonderer Bedürftigkeit erfahren hat. Sie wird ausgelöst durch das quälende Gefühl, versagt und enttäuscht zu haben und schuldig geworden zu sein. Die als unangenehm und bedrückend empfundene Emotion ist mit Selbstvorwürfen, Freudlosigkeit, Grübelei und Zweifeln an der eigenen Person verbunden. Schon beim Auftreten der Scham in leichter Form, wenn etwa der Takt fehlt oder etwas peinlich ist, bringt sie Leid mit sich, und zwar – wie der Name sagt – die Pein. Da sich Scham meist im zwischenmenschlichen Kontakt einstellt, ziehen sich schambeladene Menschen zurück und versuchen sich vor den Blicken der Umwelt zu verbergen. Wir wehren uns instinktiv gegen das Gefühl der Scham, weil es auf einen Makel in unserem Selbstbild hindeuten und als Zeichen von Schwäche verstanden werden könnte. Scham wird als beschämend empfunden, sie hat kein gutes Image – ganz zu Unrecht.
Gesunde Scham. Denn Scham, die nicht mit Schande gleichgesetzt werden darf, ist keinesfalls ein gestörtes oder krankhaftes Gefühl. Vielmehr ist das Fehlen von Scham problematisch und gefährlich. Zu Recht verurteilen wir unverschämtes Verhalten und lehnen jegliche Schamlosigkeit ab. Scham ist eine gesunde menschliche Reaktion, welche dem Selbstschutz, dem empathischen Umgang mit den anderen und der Bewältigung von Schuld dient. Wie wichtig die Scham in der biblischen Schöpfungsgeschichte ist, belegen die drei Schamkapitel in der Genesis: jenes von Adam und Eva, von Kain und Abel, vom betrunkenen Noah. Scham stellt sich immer als Warnung ein, wenn der Mensch durch Verstoß gegen göttliche Weisungen schuldig geworden ist. Aristoteles hat Scham als Tugend bezeichnet, und für die Psychologie gehört sie zur menschlichen Grundausstattung. Jesus ist mit Scham sehr behutsam umgegangen: Die Sünderin, die zweifelsohne allen Grund hatte, sich zu schämen, hat er weder beschuldigt noch verurteilt, sondern zu ihr gesagt: „Dir sind deine Sünden vergeben“ (Lukas 7,48).
Scham wird als beschämend empfunden, sie hat kein gutes Image – ganz zu Unrecht.
Reinhard Haller
Schützende Scham. Scham ist ein ausschließlich dem Menschen vorbehaltenes Gefühl, welches als natürliches Empfinden möglicherweise in den Genen verankert ist und sich ab dem zweiten Lebensjahr, wenn sich das Kind seiner Individualität bewusst wird, einstellt. Entwicklungspsychologen sehen in der Scham eine Ressource, welche die Persönlichkeitsentfaltung fördert, den sozialen Umgang vermenschlicht und die Intimität wahrt. Sie schützt unser Inneres vor Verletzungen, setzt Grenzen gegen emotionale Übergriffe und ist ähnlich der Angst ein Alarmsignal. Scham ist, wie dies der Schweizer Psychiater Daniel Hell ausdrückt, Wächterin der Grenzen, Schützerin des Selbst und Bewahrerin der Würde.
Macht und Beschämung. Beschämung ist hingegen destruktive Scham. Sie löst Schuldkomplexe und Schamaffekte aus, ebenso Gefühle des Gesichtsverlustes, des Versagens und der Minderwertigkeit. Diese können uns blockieren und sind mit Motivations- und Leistungsabfall verbunden, manchmal sogar mit Suizidalität. Beschämung, die viel mit Schuldzuweisung, Bloßstellung und Machtausübung zu tun hat, kommt immer von außen, Scham hingegen aus dem Inneren.
Beschämungskultur. Vieles deutet darauf hin, dass wir heute mit den ganzen Skandalmeldungen, dem Hass im Internet, den Castingshows und der Radikalisierung der Sprache in einer Beschämungskultur leben. Es ist wohl auch kein Zufall, dass vor nicht langer Zeit „Fremdschämen“ zum Wort des Jahres gewählt worden ist. Je mehr die Scham verloren geht, desto schamloser wird die Beschämung anderer betrieben. Denn ohne Scham fällt es leichter, andere zu entwerten und seinen eigenen Narzissmus auszuleben. „Beschämung, nicht Scham, ist das Gift, das Empathie und Akzeptanz abtötet“, sagt Professor Hell. Scham schützt, Beschämung verletzt. Je mehr die Scham schwindet, desto mehr Raum steht der Beschämung zur Verfügung.
Beschämung, die viel mit Schuldzuweisung,
Bloßstellung und Macht-ausübung zu tun hat, kommt immer von außen.
Reinhard Haller
Beschämung Jesu. Aus all diesen Gründen brauchen wir die Scham, müssen uns aber entschieden gegen das Aufkommen einer Beschämungskultur wehren. Denn Beschämung kann ein furchtbares Folterinstrument sein, wie wir jetzt in der Fastenzeit auch in Jesu Leidensgeschichte nachlesen könnten. Für Literaturwissenschaftler gilt die Verhöhnung Christi (Matthäus 27,27–50) als eine in der Weltliteratur einzigartige Beschreibung der Entwürdigung, Demütigung und Beschämung eines menschlichen Wesens.
Serie in der Fastenzeit
Teil 4 von 7
Reinhard Haller nähert sich dem Phänomen „Schuld“ aus psychologischer Sicht, geht den Wurzeln der Schuldgefühle auf den Grund und erklärt, wie man sie überwinden kann.
Autor:Kooperationsredaktion aus Burgenland | martinus |
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