Pfingstserie Teil 1 - Melanie Wolfers
Entdecke die Kraft, die in dir wohnt
Weniges bringt mich so leicht in Rage wie, wenn ich einen wichtigen Termin habe und im Stau stecke. Im Schneckentempo geht’s voran und die Nerven stehen unter Hochspannung. Doch warum vermag der Stop-and-Go-Verkehr einen fast rasend zu machen? Das liegt nicht primär am Zeitverlust, sondern vor allem an der Erfahrung: Ich bin blockiert! Ich habe keinen Einfluss darauf, vorwärtszukommen und fühle mich ausgebremst. Kurz: Ich fühle mich ohnmächtig! Und schon schlägt das Stresszentrum Alarm.
Dummerweise scheint es keinen Lebensbereich zu geben, in dem sich das Empfinden von Hilflosigkeit und Ohnmacht nicht zu Wort melden kann. Erstens machen wir im alltäglichen Leben immer mal wieder die Erfahrung, dass uns die Kontrolle entgleitet. Etwa: Eine Arbeitskollegin lässt mich auflaufen; mein Partner hat mich wegen einer Jüngeren verlassen. Ein geliebter Mensch rennt in sein Unglück und ich kann nichts tun. Zweitens gibt es die leidvolle Erfahrung, sich selbst hilflos ausgeliefert zu sein, z. B. wenn der eigene Körper einen leidend macht: Etwa 40% der Bevölkerung leiden an chronischen Krankheiten. Zahlreiche Männer und Frauen sind unfruchtbar und trotz täglichen Trainings schwinden mit dem Alter die körperlichen Kräfte. Und schließlich erleben sich viele angesichts der gesellschaftlichen und globalen Krisen als hilflos. Der Glaube an eine bessere Zukunft ist immer mehr der Ohnmacht gewichen angesichts der sich überschlagenden Krisen; angesichts von Corona, Krieg und Klima.
Alles in allem: Das Gefühl, hilflos oder überfordert zu sein, dringt durch diverse Poren und Ritzen in unser Leben. Es ist zwar unschön, aber wahr: Die Erfahrung von Ohnmacht und Kontrollverlust gehört zu den Grundkonstanten unseres Lebens!
Doch die gute Nachricht lautet: Wir sind diesem Erleben nicht hilflos ausgeliefert! Wenn wir die Erfahrung von Schwäche und Ohnmacht als einen Teil des Lebens anerkennen, werden wir mit dieser Realität besser umgehen können und auch die Kraft entdecken, die in uns wohnt.
GLAUB NICHT ALLES, WAS DU FÜHLST
„Beim Familienfest war es wieder so weit: Es ging um die Frage, was wir Geschwister mit dem Haus unserer verstorbenen Eltern machen. Es kam zum Streit, ich fühlte mich wie gelähmt. Ganz ähnlich geht es mir in beruflichen Konflikten. Ich bin einfach nicht fähig, mich zu behaupten!“ Überrascht höre ich der Frau zu, die mit resignierter Stimme ihr Leid klagt, habe ich sie doch als eine kraftvolle Person kennengelernt. Doch in den beschriebenen Situationen fühlt sie sich einfach nur machtlos. Ein erster Lichtblick tut sich auf, als ihr deutlich wird: Sich ohnmächtig und hilflos zu fühlen heißt noch lange nicht, auch tatsächlich ohnmächtig und hilflos zu sein! Eine Geschichte des argentinischen Autors und Psychotherapeuten Jorge Bucay illustriert diesen Unterschied in anschaulicher Weise:
Ein kleiner Junge liebt den Zirkus. Insbesondere fasziniert ihn der Elefant mit seiner ungeheuren Größe und Kraft. Was ihm jedoch ein Rätsel aufgibt: Jeden Abend wird der Riese an einen kleinen Holzpflock angekettet. Nur eine Handbreit tief ist dieser in den Boden geschlagen. Warum um Himmels willen zieht der Elefant nicht den Pflock heraus, an den er festgebunden ist? Warum macht er sich nicht aus dem Staub?
Da erklärt ihm ein weiser Mann, dass der Elefant, als er klein war, an diesen Holzpflock gekettet worden ist. Er zerrte und zog daran, aber hatte nicht die Kraft, sich zu befreien. Irgendwann fügte er sich in sein Schicksal. Heute reißt er nicht mehr an seiner Kette, weil er glaubt, dass er es nicht kann. Allzu tief hat sich die Erinnerung in sein Gedächtnis eingebrannt, wie ohnmächtig er sich kurz nach seiner Geburt gefühlt hat. Das Fatale: Nie wieder hat er gewagt, diese Erinnerung ernsthaft zu hinterfragen. Dabei müsste der große Elefant sich nur ein einziges Mal trauen, seine Kraft auf die Probe zu stellen – und schon wäre er frei.
Ich finde diese Parabel genial. Denn sie trifft auch auf so manche Bereiche im eigenen Leben zu. Insbesondere in Beziehungen kommt es vor, dass Menschen sich zu früh hilflos fühlen. Sie halten sich für schwach und machtlos, ohne es in Wahrheit zu sein. Aber auch im Arbeitsleben oder angesichts gesellschaftlicher Herausforderungen rutschen Menschen bisweilen in eine resignative Grundhaltung. Sie unterlassen es, nach Handlungsspielräumen zu suchen und selbst aktiv zu werden. So verlieren sie ihre Kraft aus dem Blick – und ihre Verantwortung!
Ob in der individuellen Biografie oder in der Geschichte der Menschheit: Die Freiheitsgeschichte beginnt immer wieder neu damit, dass Menschen aus ihrer vermeintlichen Ohnmacht erwachen. Und dass sie ihre Kraft wiederentdecken – ihre persönliche und ihre gemeinsame.
PRAXISTIPP
Wenn Sie in Ihrem Leben auf Überzeugungen stoßen sollten wie etwa: „Ich schaffe das einfach nicht …“ – dann tun Sie gut daran, diesen nicht einfach blind zu glauben, sondern sie anhand der vier Fragen kritisch durchzuspielen:
1. Beweise: Welche Belege gibt es für meine Auffassung?
2. Alternativen: Welche anderen Gründe könnte es geben, dass ich das bisher noch nicht geschafft habe?
3. Was wäre, wenn …: Welcher Schaden könnte entstehen, wenn ich es einfach mal versuche?
4. Nutzen: Helfen mir diese pessimistischen Gedanken, bringen sie mich weiter? Oft führt eine solche Selbstbefragung zu einem Mut- und Motivationsschub.
Aus: Melanie Wolfers, Nimm der Ohnmacht ihre Macht. Entdecke die Kraft, die in dir wohnt. bene! Verlag 2023, S. 20–26
Kraftvoll leben Nimm der Ohnmacht ihre Macht
Die Salvatorianerin Melanie Wolfers ist Seelsorgerin und Expertin für Lebensfragen und Spiritualität. In ihrer Pfingstserie zeigt die Bestseller-Autorin Hilfestellungen auf, sich von Ohnmachtsgefühlen in Krisenzeiten nicht lähmen zu lassen. Infos: www.melaniewolfers.at
Autor:martinus Redaktion aus Burgenland | martinus |
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