„Bruckner wird nie langweilig“

Markus Poschners Bruckner-Aufnahmen wurden im Jänner mit dem „ICMA Special Achievement Award“ ausgezeichnet.  | Foto: Reinhard Winkler/BOL
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Zu Anton Bruckners 200. Geburtstag am 4. September hat Markus Poschner, Chefdirigent des Bruckner Orchesters Linz, seine Einspielung sämtlicher Fassungen aller Bruckner-Symphonien vorgelegt. Ein Gespräch über Fassungsunterschiede, die Aufgabe des Dirigenten und Menschheitsfragen in der Sprache der Musik.

Wie wichtig ist es, sich bewusst zu machen, welche Fassung einer Bruckner-Symphonie man hört?

Markus Poschner: In den frühen Fassungen sehen wir ein völlig anderes Bild von Anton Bruckner als in den späteren. Bruckner schreibt hier kompromisslos, avantgardistisch, unmittelbar und von höchster Dringlichkeit. Das ist sehr wichtig zu wissen, um das Jahrhundertgenie Anton Bruckner als Ganzes zu verstehen.

Unsere Mission war es daher auch, unser Publikum mit diesen Fassungen zu konfrontieren und diese den anderen Versionen gegenüberzustellen. Vergleicht man die Urfassung der vierten Symphonie (1874) mit der heute populären 1878/80er-Fassung, dann sehen wir zwei völlig unterschiedliche Werke. Was bewegt Bruckner, was treibt ihn an? Wie kommt es, dass er diese revolutionären und einzigartigen Gedanken, die quer zum damaligen Massengeschmack standen, aufs Papier bringt – und davon auch trotz aller Misserfolge nicht ablässt? Er ist seinem Vorhaben unbeirrbar bis in seine letzte Symphonie hinein gefolgt, in der er dann, völlig von Hörerwartungen befreit, seiner ultimativen Vision zum Durchbruch verholfen hat.

Die verschiedenen Fassungen der Symphonien entstanden aus verschiedenen Gründen – von der Weiterentwicklung als Komponist bis zur Reaktion auf Misserfolge. Lässt sich das im Detail rekonstruieren?

Poschner: Die Motive sind im Einzelnen schwer auseinanderzuhalten, denn wir können ja nicht in den Kopf des Komponisten hineinschauen. Mit Überarbeitungen begonnen hat Bruckner jedenfalls schon vor den großen Misserfolgserlebnissen. Später hat er auch aus Frustration heraus Symphonien verändert – verändern müssen. In wieder anderen Fällen hat er sich viele Jahre nach der erstmaligen Komposition erneut mit der Partitur auseinandergesetzt, weil sich sein Können verändert hat: Seine erste Symphonie beispielsweise überarbeitete er nochmals mehr als 20 Jahre nach der Erstaufführung.

Die neue Ausgabe seiner Werke macht jetzt auch im Druck Bruckners einzigartiges Periodisieren seiner Werke sichtbar, die Einteilung der Takte in der Partitur nach bestimmten Zahlenverhältnissen. Früher hat man das weggelassen, weil man dachte, es täte zunächst für die Aufführung nichts zur Sache. Aber für das Verständnis dessen, was da passiert, sind diese Einteilungen eminent wichtig. Man erkennt Symmetrien oder gerade die Asymmetrien, die Bruckner sehr bewusst einsetzt.


„In den frühen Fassungen schreibt Anton Bruckner kompromisslos, avantgardistisch, unmittelbar und von höchster Dringlichkeit.“

MARKUS POSCHNER

Sie haben Ihre Aufnahmen der Bruckner-Symphonien mit zwei Orchestern durchgeführt: dem Bruckner Orchester Linz und dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien. Wie ähnlich oder wie verschieden sind diese Orchester?

Poschner: Natürlich hat jedes Orchester seine eigene Individualität im Klang. Das ist vielleicht der wesentlichste Unterschied, der vor allen Dingen mit den Musikerpersönlichkeiten zu tun hat, aber auch mit dem Raum. Wenn es bei Bruckner aber darum geht, den volksmusikalischen Lokalkolorit und die Verwurzelung in der Wiener Klassik zu zeigen, sprechen beide Orchester absolut denselben österreichischen Dialekt. Beide sind zwar multinationale Ensembles – allein im Bruckner Orchester haben wir 25 verschiedene Nationalitäten. Aber die Musikerinnen und Musiker sind hier größtenteils sozialisiert worden, haben meist in Österreich studiert und kennen den Klang und die Art und Weise des Spielens. Das ist der entscheidende Punkt. Im Übrigen habe ich es als großes Geschenk empfunden, die Ensembles nicht bis zur Deckungsgleichheit engführen zu müssen, sondern jedem seinen Charakter lassen zu können. Das ist für mich als Dirigent ohnehin das oberste Gebot: Ich muss versuchen, ein Orchester immer zu sich selbst zu führen, also zu helfen, dass die Musiker das sein dürfen, was sie sind, und das tun, was sie am besten können.

Mir ist aufgefallen, dass Sie Bruckners frühe Symphonien teilweise sehr schnell spielen. Was ist der Grund dafür?

Poschner: Die frühen Symphonien sind echte Sturm-und-Drang-Werke. Da steht in den Scherzi nicht nur „bewegt“, sondern „sehr schnell“. Aber was heißt das schon? Bruckner ist mit Tempoangaben sparsam, also muss man sich selbst seinen Reim darauf machen und einen Blick auf die unmittelbaren Vorbilder werfen. Das ist in erster Linie Richard Wagner, aber auch Hector Berlioz, den Bruckner in Wien unbedingt kennenlernen wollte. Berlioz war gerade in seinen rhythmischen Experimenten und in der Orchestersprache extrem. Seine Einflüsse kann ich in Bruckners frühen Symphonien regelrecht nachweisen – nicht nur in der Dritten, aber da besonders im letzten Satz.

Wenn man in die Rezeptionsgeschichte von Bruckner-Symphonien blickt, heißt es oft: Das ist viel zu schwer zu spielen, also spielen wir es lieber langsam. Diesen Reflex kennen wir auch bei Beethoven, denken Sie an den letzten Satz seiner 8. Symphonie. Ich glaube, das ist ein viel zu einfacher Weg. Natürlich geht es nicht darum, metronomisch genau zu sein, es geht ja niemals um Buchstabentreue. Ich werde damit keine bessere Aufführung haben, aber ich muss das, was der Komponist schreibt, unbedingt als die erste Inspirationsquelle nehmen, ich muss irgendwie in seinen Kopf kommen.

Über Richard Wagners Einfluss auf Anton Bruckner wird oft gesprochen und geschrieben. Er hat seine Werke in den Symphonien zitiert. Aber ich höre keinen Wagner, wenn ich Bruckner höre. Können Sie mir das erklären?

Poschner: Ja, das ist absolut richtig, denn da besteht ein altes Missverständnis. Zwar gibt es ohne Wagner keinen Bruckner. Wagner war ihm eine entscheidende Inspirationsquelle, aber nur neben ganz vielen anderen, die auch wichtig waren: Beethoven, Mozart, Haydn, Renaissancekomponisten, französische und italienische Musik sogar bis Rossini. Was Bruckner nie war, ist der Symphonien schreibende Epigone Wagners, den aber so viele so gern gehabt hätten. Auch die vielen Zitate ändern nichts daran, dass Bruckner eigenständige Musik geschaffen hat. Und Bruckner überwindet Wagner sogar in der neunten Symphonie, weil er harmonisch noch einen Schritt weiter geht.

Niemand kam so nahe an die Zwölftonmusik heran, an die Idee serieller Musik, an Schichten, an das Prozesshafte, als seinerzeit Anton Bruckner, und das hatten Anton Webern, Alban Berg und Arnold Schönberg schon bemerkt. György Ligeti oder Olivier Messiaen wären ohne Bruckner nicht denkbar. Aber auch hier zeigt sich seine Polarität: Einerseits steht er stark in der Tradition, andererseits auch für die Avantgarde, auch in philosophischer und ästhetischer Hinsicht. Er definiert sich nicht wie Beethoven über den Kampf, den dieser für die Ideale der Französischen Revolution ausgetragen hat. Bei Bruckner tritt das Ritual an die Stelle des Kampfes, eine fast schon überpersönliche Draufsicht auf Kunst. Die Verbindung zwischen Beethoven und Bruckner ist Schubert. In Bezug auf Wagner heißt das: Bruckner hat sich von ihm inspirieren lassen, aber wusste genau, was er von ihm bekommt und was nicht.

Sie haben in den letzten Monaten sehr viel Bruckner gespielt. Brauchen Sie da auch mal Bruckner-Pausen?

Poschner: Ich brauche keine Bruckner-Pausen. Aber hin und wieder Dirigierpausen! Das hat nichts mit Bruckner zu tun, sondern damit, dass alles Kraft kostet, was man mit Leidenschaft und Herzblut tut. Bruckner aber wird nie langweilig oder uninteressant. Kunstwerke wie seine Symphonien haben so viel mit unserem Leben und mit unserem Herzen zu tun, dass wir nie davon ablassen können. Vielleicht sind wir manchmal nicht in der Stimmung oder abgelenkt. Aber Bruckners Musik ist nichts, was man alle paar Jahre mal wieder aus dem Regal holt. Die Musik solch großer Komponisten ist Teil unseres Menschseins geworden. Ihr Genie liegt darin, dass sie die großen Menschheitsfragen und Dinge des Lebens verdichten und in der Sprache der Musik aussprechen konnten. An diesen ewigen Fragen kommt niemand vorbei. Sie sind ein Geheimnis, das wir begrifflich nicht begreifen können, sondern das uns ergreift. Erst wenn wir ergriffen werden, verstehen wir, fangen wir an zu leben. Und dafür brauchen wir die Musik.

DIE FRAGEN STELLTE HEINZ NIEDERLEITNER

Die Langfassung des Interviews mit vertiefenden Fragen und Antworten finden Sie auf: www.kirchenzeitung.at/brucknerjahr

ELF SYMPHONIEN IN 18 FASSUNGEN
Dass Anton Bruckner elf Symponien geschrieben hat, ist wahr, unterschlägt aber, dass es teilweise sehr unterschiedliche Fassungen dieser Werke gibt. Mit dem Bruckner Orchester Linz und dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien hat Dirigent Markus Poschner alle in der „Neuen Anton Bruckner Gesamtausgabe“ der Nationalbibliothek herausgegebenen Fassungen eingespielt – elf Symphonien in 18 Fassungen. Mittlerweile sind alle CDs veröffentlicht, einzeln (unter dem Label Capriccio), aber auch als Ge-samt-Box (bei Naxos).

Autor:

martinus Redaktion aus Burgenland | martinus

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