Telefonseelsorge
Wellness per Telefon
Der Telefonseelsorge haftet ein Image als Notanlaufstelle für Selbstmordgefährdete an. Man selbst versteht sich vielmehr als Wohlfühlzone für bedrängte Seelen: Es rufen Einsame, Pandemie- und Politikverdrossene, psychisch Erschöpfte sowie überforderte Mütter an. Das Ziel der Organisation: Die Menschen sollen ihre Last loswerden, bevor die Lage eskaliert.
Gerald Gossmann
Weihnachten tritt in den Hintergrund. Jedenfalls für viele Menschen, die derzeit die kostenlose Nummer der Telefonseelsorge (142) wählen. „Die Pandemie überlagert alle jahreszeitlichen Ereignisse“, betont Petra Lunzer, Psychotherapeutin und Leiterin der Telefonseelsorge Burgenland im Gespräch mit dem martinus. Rund 85 MitarbeiterInnen telefonieren (abwechselnd rund um die Uhr), chatten (täglich von 16 bis 22 Uhr) und beantworten Mails. Der Bedarf in der Gesellschaft ist groß: Es melden sich Impfgegner und Impfbefürworter. Ängstliche und Wütende. „Meine Mutter ist eine Coronaleugnerin, wir können nicht mehr miteinander reden“, klagte eine Anruferin zuletzt. Die Impfpflicht und die Spaltung der Gesellschaft seien aktuell vorherrschende Themen. „Durch diese ungeschwisterliche Begegnung mit dem Andersdenkenden fühlen sich viele in die Enge getrieben – und finden bei uns einen Ort dafür und neutrale Gesprächspartner vor“, erklärt Lunzer.
Hilfe im Alltag. In der öffentlichen Wahrnehmung fungiert die Telefonseelsorge als Anlaufstelle für Selbstmordgefährdete, die in letzter Not zum Telefonhörer greifen. Viele würden deshalb einen Anruf aus Scham scheuen, wie einen Besuch beim Psychologen. Nach dem Motto: „So weit bin ich noch nicht!“. Die Telefonseelsorge versteht sich dagegen vielmehr als Wellnessbereich für die Seele, der Menschen im Alltag helfen soll – und nicht bloß als lebensrettende Rehamaßnahme dient. Sprich: Kleine und große Sorgen, Nöte und Lasten sollen abgeladen werden, bevor die Lage eskaliert. Nicht die Brücke soll anvisiert werden, sondern das Telefon (und das möglichst rechtzeitig).
Am anderen Ende der Telefonleitung sitzen ehrenamtliche Mitarbeiter, die eine Ausbildung in psychotherapeutischer Gesprächsführung absolviert haben. Verschwiegen, vorurteilsfrei und verständnisvoll hören sie den AnruferInnen am Telefon zu. Ohne zu bewerten oder zu urteilen, versuchen sie ihr Gegenüber ernst zu nehmen und zu verstehen. „Wir sagen nicht: Lass dich impfen oder lass dich nicht impfen – wir hören einfach zu, zeigen Verständnis. Das tut vielen gut.“ Anrufer seien derzeit sensibler, „oft liegen die Nerven blank. Vielen Menschen geht es einfach schlechter, sie fühlen sich von den gesellschaftlichen Ereignissen überfordert, bedrängt und irritiert.“ Im Büro oder im Freundeskreis, erklärt Maria Pöplitsch von der Telefonseelsorge Burgenland, würden viele auf Gesprächspartner stoßen, „welche die eigene Meinung angreifen, nicht tolerieren oder ins Lächerliche ziehen“. Das passiere bei einem Anruf in der Telefonseelsorge nicht. „Menschen, die einmal anrufen, rufen immer wieder an. Weil sie das Angebot als Gedankenaustausch schätzen“, erklären Lunzer und Pöplitsch.
Nicht auf die Katastrophe warten. Nicht nur Wütende und Verunsicherte rufen an. Auch Einsame, psychisch Kranke, Menschen am Rand der Gesellschaft. „Es ist vielen Österreichern gar nicht bewusst, wie vereinsamt manche Menschen sind.“ Einigen bleibe als „letzter Kanal in die Welt“ nur noch das Telefon. „Viele Gespräch gestalten sich als Monolog. Die Einsamkeit verursacht einen großen Redebedarf – und der äußert sich bei uns“, so Lunzer. Sie würde mit der Telefonseelsorge gerne einen „größeren Beitrag für die Gesellschaft leisten“, indem noch mehr Menschen „von der wohltuenden Entlastung dieser Gespräche Gebrauch machen. Die Anrufer sollen nicht auf die große Katastrophe warten, sondern die kleinen und großen Nöte des Alltags durch einen Anruf bei der Telefonseelsorge reflektieren.“
Junge greifen zur Tastatur. Viele Anrufer und Anruferinnen suchen Unterstützung bei der Alltagsbewältigung. „Manchmal ruft einfach eine Mutter an, die mit ihren drei Kindern überfordert ist und nicht mehr weiter weiß. Ein Gespräch kann da schon helfen“, erklärt Pöplitsch. Neben der klassischen Telefonberatung boomen aktuell die Chatanfragen. „Der Mensch wird digitaler und sitzt mehr vor Online-Geräten – dadurch können sich viele unmittelbarer mitteilen“, betont Lunzer. Im Vergleich zum Telefonanrufer sei der Chatter jünger (zwischen 18 und 35 Jahre alt) und mutiger „sich in seiner Befindlichkeit mitzuteilen“. Während die Telefone rund um die Uhr und sieben Tage die Woche besetzt sind, können Chatanfragen täglich von 16 bis 22 Uhr an die MitarbeiterInnen der Telefonseelsorge gerichtet werden.
„Ich weiß nicht, wer du bist.“ Die vertrauliche Situation der Gespräche sei ein Erfolgsmodell. Vertraulichkeit und Anonymität werden groß geschrieben. Das sei das „große Kapital“ der Telefonseelsorge. „Ich weiß nicht, wer du bist. Und du weißt nicht, wer ich bin. Darin liegt die große Chance, die intimsten Bedrängungen zu formulieren“, erklärt die Psychotherapeutin Lunzer.
Autor:Redaktion martinus aus Burgenland | martinus |
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