Ich werde täglich angespuckt

Abt Nikodemus Schnabel

Christinnen und Christen werden in Jerusalem teils offen angefeindet, teils sehr wertgeschätzt. Die Religionen sind bei den Spannungen nicht das Problem, meint Abt Nikodemus Schnabel. Politiker würden die Religionen missbrauchen, um ihre schwache Politik zu kaschieren.

Herr Abt, vor einigen Wochen war in Medienberichten zu lesen, dass Sie in Jerusalem täglich angespuckt werden. Ist das wirklich so?

Abt Nikodemus Schnabel: Ja, es ist wirklich so, es hat nicht abgenommen. Es passiert nicht überall, aber besonders im jüdischen Viertel der Jerusalemer Altstadt und dort, wo mein Kloster steht, am Berg Zion. Der 2018 verstorbene israelische Intellektuelle und Friedensaktivist Amos Oz hat die Leute, die so etwas tun, „jüdische Neonazis“ genannt, weil sie öffentlich skandieren: „Israel den Juden. Nichtjuden raus.“ Menschen, die uns abgrundtief hassen, gab es schon immer. Ich konnte aber immer sagen, es ist nur eine kleine, radikale Minderheit. Neu ist: Diese Menschen sitzen jetzt in der Regierung. Die Regierung ist in Teilen rechtsradikal. Ihre Ideologie nennt man Kahanismus. Ich kann ein Beispiel nennen, das für uns Mönche sehr bedrückend ist. Auf unser zweites Kloster in Tabgha am See Genezareth wurde 2015 ein Brandanschlag verübt. Der Fall konnte aufgeklärt werden, die Brandstifter wurden vor Gericht gestellt. Der Anwalt, der die Brandstifter verteidigte, beleidigte uns während des Prozesses auf übelste Weise, er bekam dafür mehrere Ordnungsrufe. Es war Itamar Ben-Gvir, der jetzt Minister für Nationale Sicherheit ist. Dieser Mann soll für unsere Sicherheit zuständig sein!

Wie beeinflusst das die Stimmung in Israel?

Schnabel: Die Regierung verändert nicht die Ideologie der Menschen, aber sie enthemmt die Extremisten. Kahanisten gab es schon immer. Nur, wenn ein Polizist oder ein Soldat in der Nähe war, haben sie sich früher fünfmal überlegt, ob sie ihrem Hass freie Bahn lassen oder ihre Spucke wieder hochziehen und weitergehen. Das hat sich verändert. Auch dafür gibt es ein schockierendes Beispiel: Ein israelischer Journalist ging als Franziskaner verkleidet durch die Stadt. Der erste, der ihn angespuckt hat, war ein Soldat in Uniform. Das war ein Schock für den Journalisten. Er hatte gedacht, es sind Hooligans, aber nein, es sind auch Uniformierte, die uns anspucken. Das wäre früher undenkbar gewesen.


„Israel ist der Garant für alle Jüdinnen und Juden weltweit, dass den Enkeln nicht passiert, was den Großeltern passiert ist.“

Israels Staatspräsident Isaac Herzog war vorige Woche in Österreich zu Besuch. Er möchte ausgleichend wirken. Gelingt ihm das?

Schnabel: Ja, man muss differenzieren. Auch im Parlament gibt es eine Opposition, die entsetzt ist über die Vorgänge. Und es gibt einen wunderbaren Staatspräsidenten, der als Spitzenpolitiker das Thema Christenhass anspricht. Isaac Herzog sagt klar: „Ich will, dass wir hier friedlich zusammenleben.“ Wenn ich einen Gedankenschritt zurückgehe: Ich selbst bin ein Fan des Staatsprojekts Israel! Israel ist der Garant für alle Jüdinnen und Juden weltweit, dass den Enkeln nicht passiert, was den Großeltern passiert ist. Das heißt, wenn irgendwo der Antisemitismus unerträglich wird, kann sich jeder Mensch jüdischen Glaubens in ein Flugzeug setzen, nach Israel fliegen und dort angstfrei leben. Das finde ich wunderbar. Das Projekt in der Unabhängigkeitserklärung von 1948 hatte zwei Komponenten: einerseits den sicheren Hafen für die Juden weltweit, andererseits Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Es war immer ein Staat mit großer Diversität, es gibt hier Muslime, Christen, Drusen, Tscherkessen, Bahai, Samaritaner ... Allerdings hat man das Gefühl, dass der Aspekt der Demokratie in den Hintergrund rückt. Präsident Isaac Herzog und der Oberste Gerichtshof mit seiner Präsidentin Esther Hayut sind Verteidiger dieser Vision. Die Regierung, die wir jetzt haben, ist ganz klar eine Gefährdung dieses Staatsprojekts. Viele meiner jüdischen Freundinnen und Freunde haben sich inzwischen einen europäischen Pass besorgt, weil sie Vorfahren dort haben, und sagen: „Diese Regierung hat mich heimatlos gemacht.“ Sie denken über einen „Plan B“ nach. Da frage ich mich: Wo steuert Israel hin?

Es gibt also Israelis, die sich Pässe besorgen, damit sie Israel verlassen können, wenn sie es nicht mehr ertragen. Über fünf Millionen Menschen in den Palästinensergebieten können das nicht. Wie erleben Sie die Situation dieser Menschen?

Schnabel: Es gibt zwei Grundsehnsüchte der beiden Seiten: Die Israelis haben die Grundsehnsucht nach Sicherheit. Sie fühlen sich darin von uns unverstanden. Die große Sehnsucht der Palästinenser ist die Freiheit. Auch sie fühlen sich nicht verstanden. Sie sagen uns: „Ihr habt Freiheit, ihr habt einen Pass. Ihr könnt gar nicht verstehen, was es bedeutet, in einem Freiluftgefängnis zu leben.“ Das ist es, was Gespräche so anstrengend macht. Ich habe für beide Seiten große Sympathien. Man muss aber auch fragen: Bekommt ihr mit, dass euer Sicherheitsbedürfnis erfüllt wird, indem ihr ein anderes Volk unterdrückt? Und andererseits: Seht ihr, dass euer Freiheitskampf Menschen terrorisiert, die durch ihre Familiengeschichte die Shoah noch in den Knochen haben? Darüber kann man auf beiden Seiten nur mit wenigen sprechen. Beide haben eine „Opferplatte“ aufgelegt.

„Beide Seiten haben eine ‚Opferplatte‘ aufgelegt.“

In Israel leisten Männer zweieinhalb und Frauen zwei Jahre Armeedienst. Davon ausgenommen sind ultraorthodoxe Jüdinnen und Juden. Wie sehen Sie diesen Unterschied?

Schnabel: Ich möchte differenzieren. Diese Regierung vereint verschiedene Parteien. Das eine sind die radikalen Nationalreligiösen, die auch zivil mit Maschinengewehr herumlaufen und bevorzugt im Westjordanland leben. Sie sehen es als ihre Berufung, den Palästinensern ihr Land wegzunehmen. Es sind Nationalisten mit religiöser Überzuckerung. Und dann haben wir die klassischen ultraorthodoxen Parteien. Deren Angehörige müssen nicht zur Armee. Man erkennt sie an der schwarz-weißen Kleidung, sie erfüllen das optische Klischee der orthodoxen Juden und Jüdinnen. Sie sind die Buhmänner und -frauen, weil sie nicht zur Armee gehen. Ich habe Sympathie für sie. Ich war selbst nicht beim Militär, auch wenn ich anerkenne, dass eine funktionierende Landesverteidigung für eine Demokratie wichtig ist. Die Ultraorthodoxen sagen, wir geben dem Staat den jüdischen Geschmack. Sie sind die Gruppe, die dem Land eine Seele gibt mit ihrer Lebensweise und ihrem Gebet. Sie sind auch eine Herausforderung für den Staat, haben viele Kinder, sind häufig nicht am Arbeitsmarkt, leben dann von Transferleistungen. Aber ich bin nicht bereit, gegen diese Art von Juden zu hetzen. Diese Menschen haben noch nie ein Kloster von uns angezündet, sie haben noch keinen Stein in unsere Fenster geworfen, sie rempeln und spucken mich nicht an. Ihre Haltung ist: Du suchst Gott auf deine Weise, ich suche Gott auf meine Weise.

Was gibt dem Projekt Israel Zukunft?

Schnabel: Was Hoffnung macht, ist die Zivilgesellschaft auf beiden Seiten. Und da besonders die Religionsführer! Was ich gar nicht mehr ertrage, ist das Argument, die Religionen seien das Problem. Wenn man mit Menschen sprechen will in Israel und Palästina, die eine Vision haben für die Region, die sich um Versöhnung bemühen und nicht hetzen, dann sind es gerade die Religionsführer. Viele Rabbiner haben sich klar gegen die antichristlichen Attacken geäußert. Ich werde von vielen in ihre Synagogen eingeladen, und sie sagen: Ein Jerusalem ohne dich wäre nicht mehr mein Jerusalem. Genauso ist es auch in Palästina. Wir haben so viele christliche und muslimische Verantwortliche, die aus dem Glauben heraus sagen, wir müssen der Jugend Bildung geben, Neugier und Sensibilität für die anderen wecken. Dass die Religionen das Problem sind, ist Unsinn. Das Problem sind für mich die „religionisierten“ Politiker. Wir haben auf beiden Seiten echt unfähige Politiker an der Macht, die ihre Unfähigkeit kaschieren, indem sie sagen: Gott will das so. Da sage ich: Der arme Gott! Das ist Blasphemie. Ich sage, Leute, setzt euch an den Tisch, verhandelt, wie man Wasser und Ressourcen verteilt, wie man Grenzen sichert. Das Problem auf beiden Seiten ist die unfähige Politik. Von den Religionen gibt es viele positive Initiativen, das ist ermutigend.

DAS GESPRÄCH FÜHRTEN MONIKA SLOUK, STEFANIE JELLER UND SOPHIE LAURINGER.

NIKODEMUS SCHNABEL
Der Benediktinermönch Nikodemus Claudius Schnabel lebt seit 20 Jahren in Jerusalem. Seit einem halben Jahr ist er Abt der Dormitio-Abtei am Berg Zion und des Priorats Tabgha. Davor war er Migrantenseelsorger. Er hatte in Fulda, München, Münster, Jerusalem und Wien studiert. Neben seinen Aufgaben als Abt ist er Konsultor der Stiftung Pro Oriente mit Sitz in Wien, Buchautor und Medienmensch. Als Ende 2022 eine rechtsextreme Regierung in Israel antrat, änderte sich das Lebensgefühl für Christinnen und Christen, erzählt Abt Nikodemus im Interview.

Autor:

martinus Redaktion aus Burgenland | martinus

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