EIN_BLICK
Besuch im Krieg

In Lemberg werden täglich junge Männer begraben.  | Foto: APA/Yuryi Dyachyshyn
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  • In Lemberg werden täglich junge Männer begraben.
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Lemberg liegt im Westen der Ukraine. Fast 150 Jahre gehörte Lwiw, wie es auf Ukrainisch heißt, zur Habsburgermonarchie. Eine Mischung aus Wiener Klassizismus und Sowjetarchitektur prägt das Stadtbild. Seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 gehören auch Stromgeneratoren, Sandsäcke und vernagelte Fenster dazu. Das erzählt Provinzial Bernhard Bürgler von der zentraleuropäischen Jesuitenprovinz nach einem Besuch bei seinen Mitbrüdern.
Vor dem Jahrestag der russischen Invasion in die Ukraine wurde vor starken russischen Angriffen gewarnt. Hatten Sie keine Angst, das Land in diesen Tagen zu besuchen?

P. Bernhard Bürgler SJ: Respekt hatte ich schon, Angst aber nicht, da wir im ständigen Austausch mit unserem Mitbruder Oleksii Bredeliev, dem Oberen der Jesuiten in Lemberg, waren. Während unserer Reiseplanung war die Frage offen: Geht es aktuell überhaupt? Ist die Fahrt verantwortbar? Seine Einschätzung war, dass es ausreichend sicher ist.

Das hat sich bewahrheitet.

Der Provinzial der zentraleuropäischen Jesuitenprovinz besuchte die Ukraine.  | Foto: jesuiten.org
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Bürgler: Ja, aber es hat mich schon mitgenommen. Trotz allem, was man in Österreich über den Krieg hört und sieht und liest, spürt man den Ernst der Lage im Land selbst natürlich ungleich stärker. Mehrmals täglich gab es Sirenenalarm, und wir hörten Explosionen. Die Mitbrüder in Lemberg können am Klang der Detonation unterscheiden, ob es der Abschuss einer Rakete war oder ob eine Rakete eingeschlagen hat. Lautsprecher in der Stadt warnen die Menschen. Auf der Straße hat man aber nie das Gefühl, dass die Menschen unruhig werden. Mehr als einmal ist es uns passiert, dass wir in einem Lokal saßen, um etwas zu essen, dass wir das Lokal aber wegen eines Alarms ohne Essen wieder verlassen mussten.

Haben sich die Menschen sozusagen an den Kriegszustand gewöhnt?

Bürgler: Ja. Uns wurde erzählt, dass anfangs alle bei jedem Alarm in den Keller gelaufen sind. Später gingen sie nur mehr in den Luftschutzkeller, wenn sie Detonationen hörten. Jetzt suchen sie ihn nur mehr auf, wenn die Explosionen nahekommen. Es gibt sicher einen Gewöhnungseffekt, der ist auch notwendig. Man kann nicht ständig in höchster Alarmbereitschaft leben. Eine Grundanspannung ist dennoch da, man ist im Krieg. Sandsäcke schützen die Kellerfenster vor Granatsplittern, bei vielen Häusern stehen Stromgeneratoren. Kirchenfenster sind teilweise mit Brettern verschlagen. Lemberg liegt aber in der Westukraine und ist nicht so bedroht wie Kiew oder der Osten.

Obwohl die Westukraine nicht am stärksten umkämpft ist, ist der Krieg ständig präsent?

Bürgler: Die alte Jesuitenkirche etwa ist jetzt Militärkirche. Dort finden die Beerdigungsgottesdienste statt. Wir waren zu einem Gottesdienst eingeladen, der wegen der Alarme schon zweimal verschoben worden war. Dann kamen Rekruten von der Militärakademie, die vier Särge getragen haben. Zwei Straßen weiter sahen wir später zehn Busse mit jungen Soldaten, die auf dem Weg an die Front waren. Ein Teil von ihnen wird nicht lebend zurückkehren. Es ist brutal. Am Lemberger Friedhof gibt es einen neuen Teil mit lauter frischen Gräbern. Jeden Tag gibt es vier bis fünf Beerdigungen. Man sieht auch viele Soldaten auf Heimaturlaub, die mit ihren Freundinnen, Frauen oder Kindern durch die Stadt spazieren.

Was gibt den Menschen in der Ukraine die Kraft, das durchzuhalten?

Bürgler: Die Leute halten zusammen. Durch den Krieg ist die Ukraine zu einer Einheit zusammengewachsen. Das war vorher nicht selbstverständlich. Die Menschen entwickeln eine außergewöhnliche Widerstandskraft. Sie sagen: „Es gibt keine andere Chance, als sich zu verteidigen und zu gewinnen.“ Das gibt ihnen Hoffnung. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Glaube. Die Religion spielt eine große Rolle. Die ukrainische orthodoxe, griechisch-katholische, römisch-katholische, evangelische Kirche. Und was nicht unterschätzt werden darf: die Unterstützung aus dem Westen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sehen, dass der Einsatz auch Europa weiter eint.

Wie engagieren sich die Jesuiten?

Bürgler: Als die russische Invasion begann, war der Wunsch unseres Generaloberen, dass die Jesuiten an einem Strang ziehen und nicht jede Provinz ihre eigenen Projekte beginnt. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst JRS betreibt ein Flüchtlingshaus in Lemberg und eines außerhalb. Hier leben vor allem Frauen und Kinder und bekommen Unterstützung und Information. Mit vielen Menschen sind Jesuiten seelsorglich im Kontakt. Sie geben Exerzitien und geistliche Begleitung. Manche haben zusätzliche therapeutische Ausbildung und wirken in diesem Bereich. Ein Mitbruder in Kiew ist Militärseelsorger. Der JRS hat sein Zentrum für die Region in Warschau. Von dort aus wird die Arbeit in der Ukraine, aber auch in den Nachbarländern koordiniert. In Polen und anderen Ländern sind ja viele Vertriebene aufgenommen worden.

Welche Begegnung hat Sie auf der Reise besonders berührt?

Bürgler: Das Flüchtlingszentrum in Polen wird gemanagt von drei in Vollzeit und vier in Teilzeit angestellten Geflüchteten. Es ist beeindruckend, was sie leisten. Und eine Lehrerin aus Cherson unterrichtet ihre Klasse online weiter, obwohl die Kinder mittlerweile in viele Länder zerstreut wurden, auch nach Österreich oder Deutschland. Berührt hat mich auch, als die Köchin unseres Flüchtlingshauses in Lemberg mir erzählt hat, dass sie ihren Sohn im Krieg verloren hat. Und dann gab es noch ein ganz besonderes Erlebnis: Kinder im Flüchtlingshaus knüpften kleine Figuren aus Wollfäden. Währenddessen beteten sie: für den Frieden, für ihre Väter, für das Land, für Gerechtigkeit, ...

Welche Probleme machen den Geflüchteten am meisten zu schaffen?

Bürgler: Die Menschen in unserem Flüchtlingshaus in Polen haben zum Beispiel große Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Sie wollen selbständig für sich sorgen, unabhängig sein. Es ist nicht absehbar, ob und wann sie in ihre Heimat zurückkehren können. Die meisten wollen bald nachhause, haben gar nicht damit gerechnet, dass sie so lange weg sein würden. Nun aber müssen sie sich auch mittel- und langfristige Perspektiven überlegen. Niemand kann zurzeit sagen, wie lange der Krieg noch dauert. Diese Unsicherheit ist belastend. Und was noch lange nachwirken wird, ist die Zerstörung des menschlichen Zusammenlebens, sind Traumatisierungen. Da wird man längerfristig schauen müssen, wie man das auffängt. Das wird Heilung brauchen.

DAS GESPRÄCH FÜHRTE MONIKA SLOUK.

In Lemberg werden täglich junge Männer begraben.  | Foto: APA/Yuryi Dyachyshyn
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Autor:

martinus Redaktion aus Burgenland | martinus

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