Warum gehört das Fasten zum Christentum?
Sehnsucht nach einer alten Tugend

Thomas Vogel: „Die antiken Philosophen (Stoiker) waren überzeugt, dass man mit dem rechten Maß – dieses liegt zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig – ein glückliches Leben führen kann.“ | Foto: iStock/Sonja Rachbauer
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  • Thomas Vogel: „Die antiken Philosophen (Stoiker) waren überzeugt, dass man mit dem rechten Maß – dieses liegt zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig – ein glückliches Leben führen kann.“
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Christen fasten – teilweise mehrmals im Jahr. Dies „gute alte Tradition“ der Mäßigung hat aber nicht nur historische Gründe, sondern auch ganz praktische. Thomas Vogel, Erziehungswissenschaftler und Buchautor, hat die Mäßigung erforscht und fordert dringend ein Überdenken unseres exzessiven Produktions- und Lebensstils.

Warum gelingt es unserer Industriekultur nicht, sich zu mäßigen, obwohl es dringend nötig wäre? Ist der Mensch überhaupt in der Lage, sich zu beschränken, und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Thomas Vogel, Erziehungswissenschaftler an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, sagt: „Vor 2000 Jahren ruinierte sich das reiche Rom durch seinen Luxus und seinen Überfluss selbst. Heute stehen wir allerdings nicht nur vor dem Ende einer degenerierten Kultur, sondern vor der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen.“

Mit seinem aufrüttelnden Buch „Mäßigung. Was wir von einer alten Tugend lernen können“ macht Vogel auf die gravierenden Probleme durch Maßlosigkeit auf globaler und individueller Ebene aufmerksam. Außerdem liefert er Anhaltspunkte für eine Umkehr, indem er die Philosophie der Mäßigung neu ins Gedächtnis ruft. Am Beginn der Fastenzeit sind seine Aussagen ein anregender Impuls, die alte Tugend Mäßigung neu für sich zu entdecken.

Kardinaltugend „Mäßigung“

Was ist Mäßigung und warum sollen wir uns mäßigen? Thomas Vogel erklärt im Gespräch mit dem SONNTAG: „Die Mäßigung gehört seit der Antike zu den Kardinaltugenden. Das Wort ,Kardinal’ kennen wir heute meist nur noch als Bezeichnung für einen kirchlichen Würdenträger. In seiner Bedeutung hat es jedoch einen viel tieferen Sinn: Vom lateinischen Wort ,cardo’ abgeleitet, bedeutet es so viel wie ,Türangel’ oder ,Drehpunkt’. Übersetzt in unseren Kontext, steht es dafür, dass Mäßigung ein lebenswichtiger Angelpunkt des menschlichen Lebens sein sollte.“ Weder in der antiken noch in der modernen Philosophie ist Mäßigung allerdings gleichbedeutend mit „Verzicht“. So verstanden die antiken Philosophen unter „Mäßigung“ (griech. „Sophrosyne“) ,ordnende Verständigkeit’ und ,besonnene Gelassenheit’. „Die antiken Philosophen (Stoiker) waren überzeugt, dass man mit dem rechten Maß – dieses liegt zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig – ein glückliches Leben führen kann. Mäßigung ist also nicht ein Verzicht, bei dem man auf ein Minimum hinarbeitet. Es geht um Balance“, sagt der Autor.

Warum wir uns mäßigen müssen

Das Christentum hat sich in seinem Gedankengut stark an die antike Philosophie angelehnt und die Mäßigungsphilosophie der Stoiker in die christliche Ethik übernommen. Auch Papst Franziskus fordert in seiner Enzyklika „Laudato si’“ (2015) eine dringend notwendige Mäßigung des Konsums und übt Kritik an der „zerstörerischen anthropozentrischen Maßlosigkeit der Moderne“.

Thomas Vogel schildert in seinem Buch „Mäßigung“ Phänomene der Maßlosigkeit (und ihre Folgen) auf globaler und auf individueller Ebene. Ein Beispiel: Weltweit leiden 800 Millionen Menschen Hunger, zugleich werden in Deutschland jedes Jahr 18 Millionen Tonnen Nahrungsmittel in den Müll geworfen. „Unsere Wegwerfgesellschaft ist geprägt von einem immer schnelleren Konsumieren und einem verschwenderischen Umgang mit Gütern und Ressourcen“, sagt Vogel. Die Müllberge wachsen, der Klimawandel macht sich von Jahr zu Jahr stärker bemerkbar. Es droht die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. „Schon heute kann man erkennen, dass mit dem Streben nach Mehr und der Beschleunigung vieler Prozesse nicht allein eine Zerstörung der Naturressourcen, sondern gleichzeitig auch ein Verlust von psychischen und physischen Reserven der Individuen verbunden ist“, erläutert der Forscher.

D. h. Maßlosigkeit führt sowohl auf globaler und als auch auf individueller Ebene zu großen Problemen. Thomas Vogel: „Die Menschen werden in einer Konsumgesellschaft nicht unbedingt glücklicher: In Deutschland stieg die Einnahme von Antidepressiva zwischen 1991 und 2016 um 700 Prozent. Auch Essstörungen und Burn-out-Erkrankungen nehmen zu. Wir sind der Komplexität unsere Welt und dieser verflüssigten Kultur, die eigentlich keine Regeln und Werte mehr hat, nicht mehr gewachsen“, resümiert Vogel.

Alte Tugend, vom Rost zerfressen

Die Kardinaltugend der Mäßigung, laut griechischer Philosophie Dreh- und Angelpunkt eines geglückten Lebens, scheint vom Rost zerfressen. Warum ist der Ausweg aus dem „Konsumradl“ für die Menschen in den Industrieländern so schwierig? Thomas Vogel: „Dazu muss man sagen, dass Menschen in entfremdeten Arbeitsverhältnissen wie z.B. eine Kassiererin beim Discounter oder ein Paketzusteller während ihrer Arbeit sehr viel Selbstdisziplin aufbringen und verzichten müssen. Wenn sich ein Mensch den ganzen Tag so zusammenreißen muss, dann braucht er Ausgleich und sucht Ablenkung - diese findet er in Konsum, Reisen, Feiern...“

Wirtschaftswachstum contra Mäßigung

Der Bildungswissenschaftler geht noch weiter: „Unser Wirtschaftssystem ist auf Wachstum und Gewinnerzielung ausgelegt und braucht keine Menschen, die sich mäßigen, sich selbstbeherrschen können, sondern unzufriedene, unglückliche Menschen, entwurzelte Menschen sogar, weil die leichter konsumieren und leichter für Werbebotschaften ansprechbar sind.“ Entwurzelt seien Menschen heute auch von der Religion, „aber zuerst von sich selbst heraus: Diese Menschen sind nicht in sich verwurzelt, sie haben kein Selbstbewusstsein und keine Selbsterkenntnis“, sagt der Forscher. Daher fordere die Philosophie der Mäßigung, dass der Mensch zunächst einmal sich selbst erkennen soll. Ihr Ziel sei es, dass der Mensch eine Gemütsruhe entwickle und sich von Umständen, die ihn immer mehr durcheinander bringen, befreit. Heute würden nicht nur Waren produziert, sondern auch die Bedürfnisse nach diesen. Wir sollten uns bewusst sein, „dass in den Werbeabteilungen der Konzerne die intelligentesten Werbepsychologen sitzen, die uns jeden Tag ein neues Glücksversprechen machen. Das wirkt massiv auf die Menschen ein, deshalb ist es auch so schwierig, eine Kultur der Mäßigung zu entwickeln“, erklärt Prof. Vogel.

Innehalten fördert Mäßigung

Die Selbsterkenntnis und die Reflexion des eigenen Handelns sind der erste Schritt, die Tugend der Mäßigung wiederzuerlangen. „In unserer überkomplexen und beschleunigten Welt müssen die Menschen kaum etwas dringlicher lernen als innezuhalten und Selbsterkenntnis zu üben, um dadurch das Schöne in der natürlichen und sozialen Umwelt wahrnehmen und würdigen zu können“, betont Thomas Vogel. Für Kinder sei das Vorbild der Eltern wichtig: „Wenn die Erwachsenenwelt selbst maßlos ist, Verschwendung betreibt, dann können wir von nachwachsenden Generationen nicht erwarten, dass sie sich zurückhalten und mäßigen.“ Ebenso bedeutend sei es, die Persönlichkeit der Kinder zu stärken. Da wäre die Schule am Zug, „aber heute stellt man an Schulen eher den Anspruch, dass sie unsere Kinder in erster Linie für die anschließende Arbeitswelt qualifiziert und weniger dass sie ihre Persönlichkeit stärkt“, kritisiert Thomas Vogel.

Wie hält es der Forscher selbst mit der Mäßigung? „Ich versuche immer wieder mein Verhalten zu reflektieren und das rechte Maß zu bestimmen. Das ist ein ständiger Suchprozess und es gibt dafür kein Rezept. Ich halte seit zwanzig Jahren eine Schafherde und baue selbst Gemüse und Obst an. Ich habe da einen Hüterauftrag und muss meinen Alltag darauf einstellen. Dieser naturnahe Weg hilft mir, mich der Tugend der Mäßigung immer wieder neu anzunähern.“

Thomas Vogel: „Die antiken Philosophen (Stoiker) waren überzeugt, dass man mit dem rechten Maß – dieses liegt zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig – ein glückliches Leben führen kann.“ | Foto: iStock/Sonja Rachbauer
Prof. Dr. Thomas Vogel: Bildungswissenschaftler (Heidelberg), Buchautor und Schafhirte | Foto: Daniel George
Autor:

Agathe Lauber-Gansterer aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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