Kreuz-Geschichte(n)
Auf allen Gipfeln steht ein – Kreuz
Natur erleben, eine Bergtour unternehmen ist selbst in Coronazeiten möglich. Oben am Gipfel zu stehen, gibt einem ein befreiendes Gefühl. Und lässt manchen darüber grübeln, warum eigentlich auf fast jedem Gipfel der Alpen ein Kreuz steht. Ein „Grübler“ hat dazu ein ganzes Buch mit Geschichten gefüllt.
Die letzten Schritte, alle Kräfte sammeln, noch einmal tief durchatmen. Endlich, da steht es, das Kreuz, der Endpunkt der anstrengenden Bergtour. Ein Ziel, das selbst in diesen Zeiten ohne Maske im Gesicht erreichbar ist. Der Ausblick, fantastisch. Ein Gefühl von Freiheit kommt auf. Was unten im Tal noch wichtig war, verliert hier oben an Bedeutung.
Der Blick schweift, bleibt am Gipfelkreuz hängen. Plötzlich taucht eine Frage auf: Warum steht da eigentlich ein Kreuz? Und wer hat es aus welchem Grund aufgestellt? Einmal schnell „gegoogelt“ (ja, Handys funktionieren auch in der Höhe meist klaglos) und Wikipedia sagt: Ein Gipfelkreuz ist ein Kreuz auf dem Gipfel eines Berges oder Hügels, das als Gipfelmarkierung und religiöses Symbol dient. Ah ja.
Woher kommt das Kreuz am Gipfel. Schon Ende des 13. Jahrhunderts wurden auf manchen Anhöhen Kreuze errichtet, wohl mehr aus Gründen der Grenzmarkierung denn als religiöse Zeichen. Gipfelkreuze, so wie wir sie heute kennen, wurden in den Alpen dann ab dem 19. Jahrhundert im Zuge des aufkommenden Alpinismus errichtet. Nicht nur zur „Ehre Gottes“, sondern auch als Symbol der Aufklärung, als weltliches Machtsymbol, als Zeichen einer Erstbesteigung oder zum Anbringen wissenschaftlicher Messinstrumente. Nach Ende des Ersten, aber vor allem des Zweiten Weltkriegs wurden besonders viele Gipfel mit einem Kreuz versehen – oft als Zeichen der Dankbarkeit von Kriegsheimkehrern oder in Erinnerung an Gefallene. In den folgenden Jahren kam es dann mitunter beinahe zu regelrechten Wettbewerben, wer das „größte, schönste oder höchste Gipfelkreuz“ unter größtmöglicher Anstrengung den Berg hinaufschleppt.
Und heute? Da zählen Gipfelkreuze zum allgemeinen Kulturgut. Zum perfekten Gipfelsieg gehört das Foto mit Bergsteiger und Kreuz. Vielen Menschen ist deren religiöser Hintergrund schlicht egal oder sie suchen nach einer für sie persönlich passenden Bedeutung. Kreuze auf den Höhen werden neu aufgestellt, künstlerisch gestaltet, die spektakulären touristisch vermarktet, und jene durch Wind und Wetter zerstörten immer wieder repariert. Trotz da und dort wiederholt aufflammender Kritik an der Dominanz des christlichen Kreuzsymbols und der Forderungen, die Kreuze einfach von den Gipfeln zu räumen.
Nachgefragt. „Ich saß vor ein paar Jahren auf einem unspektakulären Gipfel bei Garmisch-Partenkirchen, schaute auf das Kreuz und stellte mir auf einmal genau solche Fragen, wieso steht es hier, wer hat es gebaut und warum“, erinnert sich Hans-Joachim Löwer. Der begeisterte Bergsteiger, langjährige Journalist und freie Autor (Jahrgang 1948) übersiedelte vor einem Jahrzehnt aus Hamburg nach Garmisch – weil ihn die Berge mehr inspirieren als das flache Land. Die Antworten, die Löwer auf seine „Kreuzgrübeleien“ („die Kreuze sind ja nicht vom Himmel gefallen“) nach einer schnellen Recherche in Internet & Co. fand, befriedigten ihn nicht: „Ein paar Pfarrer und lokale Chronisten haben manchmal etwas über Kreuze in ihrer Heimatregion geschrieben.“
Da machte sich Löwer auf und recherchierte persönlich zwei Jahre lang in Ländern der Alpenregion, in Österreich, der Schweiz, Deutschland und Italien. Frankreich fiel aus, weil dort mit der strikten Trennung von Kirche und Staat Gipfelkreuze keine Rolle spielen und religiöse Symbole ungern im öffentlichen Raum geduldet werden. Ebenso Slowenien als ehemaliger Teil des kommunistischen Jugoslawien.
100 Geschichten. „Kirche ist out, Kreuze sind in – ein seltsamer Widerspruch.“ Das schreibt Hans-Joachim Löwer im Vorwort seines Buches, in dem er als Ergebnis seiner Recherchen die „100 spannendsten Geschichten, die sich um Gipfelkreuze in den Alpen ranken“, festgehalten hat. Es ist keine umfassende Kulturgeschichte über das markante Phänomen der alpenländischen Gipfelkreuze (die hat noch niemand geschrieben), sondern es sind jeweils Geschichten über ungewöhnliche Menschen, menschliche Dramen und Tragödien, politisch gesetzte Signale und Machdemonstrationen, über wahre Kraftakte bis hin zu Gelübden, aus Dankbarkeit wegen „Gottes Hilfe“ ein Kreuz zu errichten.
Jetzt, mehr als ein Jahr nach Erscheinen des Buches, meint Löwer auf die Frage, was ihm denn selbst ein Gipfelkreuz bedeutet: „Nach so vielen Recherchen weiß ich, dass eine Botschaft in ihm steckt, ich weiß noch nicht, welche es ist, aber ich ahne sie.“ Wer in die Berge geht, setze sich sowieso mit Gott und der Welt auseinander. Seine Gedanken bei Touren gehen, „seit ich recherchiert habe, noch weiter. Die große Macht, die die Kirche einmal hatte, die geistigen, kreativen Kräfte, die durch sie entfesselt wurden – was bedeutet es für die Menschen, wenn dieser Einfluss dahinschwindet, wer füllt die spirituelle Lücke?“ Grübeleien, die eine „Bergtour so richtig anfüllen“.
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