100 Jahre Caritas Kärnten
"Fürchtet euch nicht!" sollte unser Motto sein

Der Caritasdirektor Ernst Sandriesser im Sonntag-Gespräch über 100 Jahre Caritas in Kärnten, was die Caritas von anderen unterscheidet und warum Europa viel zu ängstlich geworden ist:

Die Caritas Kärnten feiert heuer ihr 100-Jahr-Jubiläum. Ein Grund zur Freude, weil es 100 Jahre Nächstenliebe bedeutet. Aber sollte nicht eigentlich mit Hilfe der Caritas die Armut abgeschafft werden?
Sandriesser: Die Caritas ist vor 100 Jahren nicht mit dem Anspruch gegründet worden, die Armut abzuschaffen. Die Ursachen und Formen der Armut sind so vielfältig, dass dies auf Erden nie der Fall sein wird. Aber es ist der Caritas jedes Jahr gelungen, die Not zu lindern und Menschen zu helfen, wieder ein eigenständiges Leben zu führen.

Die Caritas hat sich in diesen 100 Jahren sehr gewandelt. Was waren die großen Umbrüche?

Sandriesser: Wer schnell hilft, hilft doppelt. Daher ist es sehr wichtig, auf Veränderungen rasch zu reagieren. Die Caritas Kärnten gehörte lange Zeit zu den größten Textilsammlern in Österreich. Deshalb verbinden viele Menschen die Caritas immer mit den gelben Kleidersäcken. Aber die gibt es schon lange nicht mehr. Es werden zwar nach wie vor Textilien benötigt, aber nicht mehr in diesem Ausmaß wie früher. Auch nicht in den Ländern des Südens, weil es dort mittlerweile eine eigene Textilindustrie gibt. Das heißt, die Caritas ändert sich rascher als die Wahrnehmung in der Bevölkerung. Wir sind mittlerweile zu einer der größten Beratungseinrichtungen in Kärnten geworden, weil die materielle Not abgenommen, aber die seelischen Nöte und psychischen Belastungen zugenommen haben. Denn der Mensch lebt nicht nur vom Brot alleine …

Die Caritas ist auch so etwas wie das soziale Gewissen der Kirche. Wie weit kann und darf die Caritas auf politische Entwicklungen Einfluss nehmen bzw. diese kritisieren?
Sandriesser: Die Arbeit der Caritas besteht aus drei Schritten. Jesus hat gesagt: „Geht hinaus“ und nicht: „Setzt Euch hin, und wartet, bis jemand kommt.“ Hingehen und sehen wie viele Menschen verwundet, gekränkt und hilflos sind. In Kärnten sind 97.000 Menschen permanent gefährdet, arm oder ausgegrenzt zu werden. Der zweite Schritt ist Berühren und Heilen: mit einem Dach über dem Kopf und einem warmen Bett; mit einem Teller heißer Suppe; mit tröstenden Worten und seelischer Begleitung, wenn das Leben brüchig geworden ist; am Ende des Lebens oder auch in jungen Jahren. Und der dritte Schritt besteht in der Frage nach den Ursachen der Armut. Und da sind es neben individuellen Gründen auch gesellschaftspolitische Gründe, warum im siebtreichsten Land der Erde immer noch viele Menschen keine ausreichende Ausbildung und Unterstützung haben, um ein eigenständiges Leben zu führen. In dieser Weise ist die Caritas politisch. Wir sind gerne gesehen, wenn wir akute Nothilfe leisten, aber weniger gerne, wenn wir die Ursachen der Armut aufzeigen. Zunehmend ändert sich das Bild, weil die Caritas eine große Expertise u. a. im Sozialbereich hat und diese bei den Sozialpartnern und der Politik geschätzt wird.

Wo ist der gemeinsame Nenner von spendensammelnder Hilfsorganisation, Betreiber von Alten- und Pflegehäusern sowie von Kindergärten, sozialer Unternehmer (Magdas & Co) etc.?

Sandriesser: Die Caritas wird nicht von einem Direktor geführt, sondern von den Aufgaben, die sich stellen. Das haben meine Vorgänger Viktor Omelko und Bischof Josef Marketz so gehalten und ich führe das fort. Daher ist der gemeinsame Nenner die unmittelbare Orientierung an den Nöten der Menschen. Daran müssen wir uns messen lassen. Das ist nicht immer leicht, weil es immer an Menschen und Mitteln mangelt, um auf alle Nöte rasch und adäquat zu reagieren. Die Aufgaben wachsen schneller als das Spendenaufkommen.

Was unterscheidet die Caritas von anderen, säkularen Hilfsorganisationen?
Sandriesser: Ein Kennzeichen aller Caritaseinrichtungen ist, dass wir die Beziehung zu den Armen nicht delegieren dürfen. Die Versuchung ist groß zu sagen: Wir haben den Sozialstaat, wir haben die Caritas. Caritas als Nächstenliebe und Fürsorge gibt es seit 2000 Jahren als Grundhaltung, und erst seit 100 Jahren ist sie eine Organisation. Jeder Priester, jeder Christ sollte einen Armen als Freund haben. Die Beziehung zum Stifter ist unser Markenzeichen. So wie das Rote Kreuz Henry Dunant in Erinnerung behält und die Hospizbewegung Cicely Saunders verehrt, so ist es in der Caritas Jesus von Nazareth, an dem wir uns orientieren. Mit dem Bonus, dass er lebendig unter uns ist – vor allem im Nächsten und besonders in den Bedrängten und Unterdrückten.

Die Caritas wurde vor 100 Jahren in Zeiten einer Hungersnot gegründet. Wo sehen Sie heute die größten Nöte? Wie kann/soll man darauf reagieren?
Sandriesser: Jede echte Not ist für die betroffene Person groß. Was es dafür braucht, hat der Dichterpriester Martin Gutl zeitlos beantwortet: „Trotz der acht Milliarden: viel zu wenig Menschen.“ Nämlich Menschen, die nach der zehnten Enttäuschung noch vertrauen können. Wir brauchen Menschen, die ein offenes Wort riskieren, wenn anderen ein Unrecht geschieht. Wir brauchen Menschen, die lieber hergeben als kassieren.

Was sind die großen Herausforderungen für die nächste Zukunft?

Sandriesser: Aus einem „Kontinent der Hoffnung“ ist Europa zu einem „Kontinent der Angst“ geworden. Wir lieben Politiker, die uns sagen, dass eh alles nicht so schlimm wird, wie es uns die Wissenschaft sagt. Aus Angst, dass wir unser Leben und unsere Ziele ändern müssten. Angst macht eng und ist kein guter Ratgeber. Wer wird unsere Kinder unterrichten, unsere alten Menschen versorgen und unsere Lebensmittel anbauen? Wir brauchen mehr Menschen, die nach Kärnten kommen und hier arbeiten, und deshalb brauchen wir dringend mehr Zuwanderung. Das Thema ist bei vielen Menschen so angstbesetzt, dass man darüber nicht vernünftig diskutieren kann. Jesus sagt: „Fürchtet euch nicht!“ Mit dieser Haltung würden wir in Kärnten einen großen Sprung nach vorne machen.

Autor:

Gerald Heschl aus Kärnten | Sonntag

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