Schwester Melanie Wolfers: Die Kunst des Vergebens
Sich für die Gegenwart entscheiden
Was passiert eigentlich, wenn wir vergeben? Wir können unsere Vergangenheit und die erlittene Verletzung ja nicht ungeschehen machen!“, wurde ich jüngst gefragt. Natürlich lässt sich der Zeitpfeil nicht umkehren. Doch wir können unterschiedlich mit dem Geschehenen umgehen.
Vergeben bedeutet, dass wir aufhören, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen. Die rückwärtsgewandte Hoffnung ist zwar ein absurdes und sinnloses Unterfangen, aber dennoch weit verbreitet. Die Entscheidung, zu vergeben oder nicht zu vergeben, ist daher von weitreichender Bedeutung. Solange wir nämlich jemandem eine Verletzung nachtragen, sind wir es, die schwer daran tragen: Wir leben mit der Last der vergifteten Gefühle und Erinnerungen und sind Gefangene unserer Vergangenheit.
Zurückschauen bringt Stillstand
Dass das Zurückschauen zum tödlichen Stillstand führt, drückt die biblische Erzählung von Lots Frau mit einem Bild aus: Lots Frau dreht sich um und blickt zurück auf die dem Untergang geweihte, brennende Stadt, aus der sie geflohen ist. In diesem Augenblick erstarrt sie zu einer Salzsäule (Genesis 19,26).
Wenn wir uns von dem, was hinter uns liegt, nicht abwenden können, sondern davon wie gebannt sind, erstarren wir. Ein rückwärts gerichteter Blick ist blind für die Chancen der Gegenwart. Und wer keine neuen Interessen und Ziele entwickeln kann, verbaut sich seine Zukunft. Denn die Zukunft lockt nicht im Rückspiegel, sondern von vorn.
Es braucht Mut, um sich von der Vergangenheit achtungsvoll, aber auch verbindlich zu verabschieden und sich für die Gegenwart zu öffnen. Es braucht Mut zu trauern. Denn Trauern öffnet einen Weg zu neuen Lebensmöglichkeiten.
Tagebucheintrag
Nach einer für mich schweren Lebensphase, in der ich vergeblich um eine Freundschaft gerungen habe, wachte ich eines Nachts mit einem Traum auf. In ihm wird mein Ringen und Kämpfen, mein Trauern und Ahnen neuen Lebens deutlich.
„Heute Nacht hatte ich einen Traum, durch den mir aufging, wie sehr ich immer noch versuche, die Freundschaft mit B. zu retten – und es doch nicht kann.
Ich hatte mich mit B. verabredet, um gemeinsam zum Schwimmen zu gehen, doch B. sagte das Treffen aufgrund eines wichtigen Termins ab. Obwohl ich es nachvollziehen kann, bin ich enttäuscht. Irgendwann gehe ich allein zum Hafen. Ich steige auf ein Schiff in der Annahme, dass auch B. später an Bord kommen wird. Es löst sich vom Ufer und auf einmal entdecke ich, dass ich völlig allein auf dem Dampfer bin. Von einer starken Strömung getrieben, driftet er auf das offene Meer zu. Ich bekomme schreckliche Angst und schreie um Hilfe. Aber keiner hört mich.
In meiner Todesangst springe ich ins Meer und versuche, das riesige Schiff an einem Tau in den Hafen zurückzuziehen. Sobald ich in meiner Anstrengung etwas nachlasse, treibt die starke Gegenströmung mich wieder hinaus. Schließlich erreiche ich doch noch das Ufer und klettere an Land, das Tau fest in der Hand. Doch bald entgleitet es mir und das Schiff wird wieder fortgetrieben. Zum zweiten Mal springe ich in das dreckige Brackwasser des Hafens und versuche, den Dampfer einzuholen. Schließlich habe ich ihn erreicht, ergreife das im Wasser hängende Tau und will ihn wieder zurückziehen. Verzweifelt kämpfe ich gegen die mich immer weiter hinaustreibenden Fluten an, doch meine Kräfte reichen nicht mehr.
Ich spüre: Ich habe den Kampf verloren! Mir wird es nicht gelingen, den Dampfer zurück in den Hafen zu B. zu bringen. Ich gebe auf und klettere unter Aufbietung meiner letzten Kräfte an Bord.
Ich schaue, wohin mich das Schiff treibt, und versuche, es um Klippen herum zu manövrieren. Schließlich steuere ich es an ein mir fremdes Ufer, um mich dort auszuruhen. Endlich an Land setze ich mich in den Sand und blicke voll Schmerz zurück. Der Hafen ist nicht mehr zu sehen. Er liegt in weiter Ferne und B. ist für mich unerreichbar geworden. Trauer überwältigt mich und ich weine … weine … weine ...“ (Aus: Melanie Wolfers, Die Kraft des Vergebens. Wie wir Kränkungen überwinden und neu lebendig werden, Freiburg 52014, 140 f.)
Zulassen, was ist
Wenn wir trauern und klagen können, sind wir auf dem Weg der Heilung. Denn wenn wir unsere Trauer über das Verlorene zulassen, kämpfen wir nicht mehr gegen die Realität an, sondern ergeben uns. Wir „kapitulieren“ vor der Wirklichkeit um eines erhofften Friedens willen.
Oder weniger kriegerisch ausgedrückt: Wenn wir trauern, lassen wir zu, was ist, und beginnen, mit dem Unvermeidlichen zu kooperieren. Wir akzeptieren die Veränderung, die wir nicht mehr rückgängig machen können. Und dadurch kann sich etwas in uns selbst wandeln.
Richten wir in der Trauer unseren Blick auf Jesus Christus und leben wir sie in der Beziehung mit ihm, dann kann uns aufgehen: Wir sind in einem großen Zusammenhang aufgehoben, der Liebe heißt. Daher dürfen wir darauf hoffen, dass nicht Absurdität und Schmerz das letzte Wort haben, sondern dass auch die schmerzlichen Enttäuschungen ihren Platz und Sinn finden werden.
Autor:Der SONNTAG Redaktion aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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