Gedanken zur Fastenzeit von Pater Martin Werlen OSB - Teil 4
Nichts mehr verstehen
Viele Menschen wissen nicht mehr weiter. Sie suchen ihren Platz – und finden ihn nicht. Wer nach Schuldigen sucht, muss bald einmal aufgeben. Menschen, die ihren Platz nicht finden, landen oft in großer Einsamkeit. Das ist keine moderne Erscheinung.
In unserer Magdalena-Kapelle steht eine Statue des heiligen Benedict Joseph Labre (1748-1783). Wenn wir ihn vom Podest herunternehmen, begegnet uns ein höchst aktueller Wegbegleiter. Seine Pläne wurden ganz gehörig durchkreuzt. Eigentlich wollte der junge Mann aus wohlhabendem Elternhaus Priester werden. Weil er ein schlechter Schüler war, musste er dieses Ziel aufgeben. So meldete er sich mit 18 Jahren bei den Kartäusern und wurde dort abgewiesen. Mit 21 Jahren trat er in ein Zisterzienserkloster ein, musste dieses aber wegen Krankheit wieder verlassen. Er versuchte es bei den Trappisten. Dort wurde er von unerklärlichen Ängsten überfallen und ergriff die Flucht. Nach der Genesung pilgerte er in der Suche nach seinem Platz in dieser Welt nach Rom. Von dort schrieb er seinen Eltern, er habe endlich seine Bestimmung gefunden: Sein Leben lang Pilger sein. So pilgerte er zu bekannten Wallfahrtsorten in Europa. Zweimal war er auch in Einsiedeln. Die letzten 6 Jahre seines irdischen Lebens verbrachte er in grösster Armut als Bettler in Rom. Bei seiner Beisetzung waren neben den Armen der Stadt viele Leute, die ihn als Heiligen verehrten. Benedict Joseph Labre ist der Patron der Obdachlosen. Er hat seinen Platz gefunden – nicht auf einem Podest, sondern in der Liebe Gottes zu den Ärmsten der Armen.
Pläne
Ein sehr guter Schüler unseres Gymnasiums hatte viele Pläne für sein Leben. Sie wurden durchkreuzt. Nach einem eigentlich problemlosen chirurgischen Eingriff fand er sein psychisches Gleichgewicht nicht mehr. Vorher war er der Liebling aller, nun verabschieden sich ohne jegliches Aufheben ehemalige Freundinnen und Freunde. Sie lassen ihn einfach am Boden liegen. Sie melden sich nicht mehr. Sie nehmen keinen Kontakt auf. Sie antworten auf seine Anrufe, seine E-Mails und seine Briefe nicht. Er ist immer mehr allein. Seitdem er krank ist, scheint sich niemand mehr für ihn zu interessieren. «Erzähl davon deinen Schülerinnen und Schülern! Uns hat es damals niemals gesagt. Ich hätte es nicht für möglich gehalten.»
Nun hat er entdeckt, wie er auf sich aufmerksam machen kann. Er schreibt ehemaligen Freundinnen und Freunde, dass er sich das Leben nehmen wolle. In Wirklichkeit ist es ein Schrei nach Leben. Und tatsächlich wachen einige auf.
Und Gott?
Mit dem Gott, wie er sich ihn lange vorgestellt hat, als alles noch gut ging, kann er nichts mehr anfangen. Eigentlich möchte er beten. Aber wie? Als ich ihn auf einen Abschnitt aus einem Psalm aufmerksam machte, begann er zu strahlen: «Genau, das ist es!»
Mit Leid ist meine Seele gesättigt,
mein Leben berührt die Totenwelt.
Schon zähle ich zu denen, die hinabsteigen in die Grube,
bin wie ein Mensch, in dem keine Kraft mehr ist.
Ausgestossen unter den Toten, wie Erschlagene, die im Grab liegen,
derer du nicht mehr gedenkst, abgeschnitten sind sie von deiner Hand.
Du brachtest mich in die unterste Grube, in Finsternisse, in Tiefen.
Auf mir lastet dein Grimm, mit all deinen Wogen drückst du mich nieder.
Entfernt hast du von mir meine Vertrauten,
zum Abscheu machtest du mich ihnen.
Gefangen bin ich und komm nicht heraus.
Mein Auge erlischt vor Elend.
Den ganzen Tag, HERR, ruf ich zu dir, ich strecke nach dir meine Hände aus.
(Ps 88,4-10)
Mit diesen Worten begann der junge Mann wieder zu beten. Auch wenn er immer noch nichts versteht, eines ist ihm aufgegangen: «Gott ist mit mir in meiner Not. Selbst wenn ich offensichtlich zu nichts mehr zu gebrauchen bin in der Gesellschaft, da ist einer, dem meine Not nicht fremd ist. Zusammen mit ihm kann ich beten.»
Die andere Botschaft
Nicht zu gebrauchen in der Gesellschaft: Das ist ein hartes Urteil. Überflüssig sein. Nur eine Last sein. Nicht vermisst werden. Nicht erwartet sein.
Jungen Menschen wird immer wieder gesagt, dass die Welt nicht auf sie wartet. Diejenigen, die das sagen, sind voller Demut stolz auf ihre Weisheit. Da haben wir als Getaufte eine andere Botschaft, die überrascht. Ich bin überzeugt: Wenn wir leben, was wir bekennen, dann wartet die Welt auf uns. Die Welt schreit nach Menschen, die mit offenen Augen und aufgeschreckten Ohren durchs Leben gehen. Die Welt schreit nach Menschen, die neue Ideen einbringen, um aus allem Festgefahrenen herauszufinden.
Der Schrei der Welt
Die Welt schreit nach Menschen, deren Horizont nicht an den eigenen Interessen oder an der Landesgrenze endet. Die Welt schreit nach Menschen, die die Not so vieler wahrnehmen und dabei nicht gleichgültig bleiben. Die Welt schreit nach Menschen, die sich nicht besser fühlen als die anderen, sondern zusammen mit den anderen auf dem Weg sind. Die Welt schreit nach Menschen, die einander mit Respekt begegnen. Die Welt schreit nach Menschen, die die Hoffnung nicht verlieren.
Autor:Der SONNTAG Redaktion aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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