"Passionswege" durch die Fastenzeit
Missbrauch im Stift: Täter ohne Reue
Die Geschichte eines Missbrauchs: An einem Ostermontag bekommt Wolfgang Treitler ein E-Mail eines ehemaligen Hilfserziehers aus seiner Zeit im Internat im katholischen Stift Seitenstetten in Niederösterreich. Der Erzieher möchte ihn gerne treffen, er habe so gute Erinnerung an ihn. Wolfgang Treitler will die Nachricht ignorieren, doch das gelingt ihm nicht. Mit einem Mal ist die Zeit, als der damals elfjährige Bub zitternd im Schlafsaal liegt und den eigenen Körper nicht mehr mag, wieder präsent. Die Ereignisse liegen 40 Jahre zurück. Den Erzieher nennt er seinen Peiniger.
Wolfgang Treitler ist verheiratet, hat zwei Kinder und steht voll im Berufsleben. An der Universität Wien ist er Professor für Theologie, er befasst sich viel mit jüdischer Holocaustliteratur und wenn er nicht am Schreibtisch sitzt, streift er mit dem Rennrad durch den Wienerwald. Die E-Mail-Nachricht des Peinigers macht ihn unruhig: "Was will der Mann von mir? Versucht er das Verbrechen zu bereinigen, oder will er es fortsetzen?" Er holt das Rad aus dem Keller und fährt eine Runde durch den Wald. Dann setzt er sich an den Computer und schreibt:
S.g. Herr B.,
An Sie kann ich mich bestens erinnern. In der Reihe der Menschen, die meine Wege gekreuzt haben, sind Sie der Abscheulichste gewesen. Ihr Name ist eingetragen in die Missbrauchsliste der Katholischen Kirche und wirkte gegen mich in den Jahren 1972-1974.
Erinnern Sie sich noch?
Sie prügelten den Elfjährigen gegen eine Bücherwand, die über ihm zusammenbrach, sie verfolgten ihn mit Ihren perversen Sexualphantasien, zogen die Pyjamahose nach vorn, um genau zu sehen, wie der Phallus liegt, hängt oder steht, trieben mich und andere um halb fünf in der Früh in den kalten Studiersaal und ließen uns dort stehen mit morgendlicher Erektion, verfolgten mich bis aufs Klo und peinigten mich mit Übungen, die ich vor einigen Jahren in einer Anzeige gegen Sie genau beschrieben habe und vor denen mir heute noch graut …
Sie hatten mich erpresst: Wenn ich davon etwas meinen Eltern sage, fliege ich von der Schule. Einmal sagte ich meinen Eltern etwas, Ihre Hände, Ihre furchtbaren Augen, Ihre perversen Griffe ließen nicht lange auf sich warten. Diese Hände, Augen und Griffe sollen Sie verfolgen bis zu Ihrem letzten Atemzug - das ist mein Herzenswunsch für Sie an diesem Ostermontag. Vergessen Sie mich nie!
Der Hass wird bleiben
Am nächsten Tag erhält er eine Antwort. Darin verdreht der Hilfserzieher die Ereignisse. Er habe damals den Buben vor einem pädophilen Pater des Stiftes beschützten wollen, schreibt er. "Diesen Pater gab es zwar, aber unser Jahrgang hat mit ihm nichts zu tun gehabt", sagt Wolfgang Treitler. "Da habe ich verstanden, dass es für mich keinen Kontakt geben wird. Denn er hatte überhaupt keine Einsicht in seine Schuld."
Es spricht der Hass aus Wolfgang Treitlers Worten, und er steht dazu: "Ich habe durch diesen Mann erfahren, wie ich durch Schläge hingerichtet werde. Das Gefühl trage ich bis heute in meinem Körper. Aber in diesem Hass steckt etwas von einer Selbstbehauptung - die mich gerettet hat und die ich mir auch nicht nehmen lasse."
Zwei Jahre nachdem sein Peiniger ihm geschrieben hatte, verfasst Wolfgang Treitler ein autobiographisch inspiriertes Buch, eine Novelle. "Das Schreiben hat mir geholfen." Er erzählt darin von einem Buben, der seinen Namen trägt, der weinend dem Ende der Schulferien entgegensieht, der versucht dem Erzieher keinen Anlass für Schläge zu geben und trotzdem verdroschen wird, so dass ihm alles wehtut: "Wen Gott liebt, den züchtigt er", hört er. Es ist ein Bub, der sich nicht mehr konzentrieren kann, dessen Schulleistung nachlässt; ein Bub, der zunehmend irritiert ist, weil ihn der Erzieher abends allein zu sich ins Zimmer ruft, ihn fragt: "Onanierst du?" Und gleich nachschiebt, dass ihn die Mitschüler verraten hätten; ein Bub, der sich immer mehr zurückzieht.
Niemand hilft dir
"Im Missbrauch liegt die Erfahrung der völligen Isolation", sagt Wolfgang Treitler. "Man hat niemanden mehr, dem man vertrauen kann. Du bist völlig allein gelassen." Der Missbrauch führt auch in einen religiösen Abgrund. Er stellt das Bild eines liebenden Gottes in Frage. Denn, sagt Wolfgang Treitler, "es hilft dir niemand, auch kein Gott."
Wolfgang Treitler ist vorsichtig geworden mit dem Sprechen über Gott. Vieles, was wir heute unter dem Stichwort Gott vermitteln, sei eine Wunschvorstellung. Wünsche seien zwar wichtig, sagt er, sie zielten letztlich auf Hoffnung. Ja, Gott sei die Liebe, im Sinne von etwas wonach wir uns sehnen. Problematisch aber ist, wenn der Wunsch zur Tatsache erklärt werde. Wenn gesagt wird, Gott sei als Liebe erfahrbar. Denn viele Menschen haben das nie erlebt.
Gott als "Geheimnis des Abgrundes"
Wolfgang Treitler unterrichtet seit 35 Jahren Theologiestudierende. Mit der Kirche gebrochen hat er nie. Wie ist das möglich? Die Kirche überliefere ihm Texte, die auch gegen sie sprechen, subversive Texte. Er ist fasziniert von den Propheten im Alten Testament. "Da kommt es zu Anklagen, zu Verbalattacken, und das ist Heilige Schrift! Mir gefällt Jeremia, weil er etwas zutiefst Menschliches kennt, das Verzweifeln an den eigenen Möglichkeiten, er will nicht mehr leben." Und Gott? Treitler sagt, er habe in der Bibel viel über das Geheimnis Gottes gelernt, habe Gott als "Geheimnis des Abgrundes" gefunden. Er spricht von "Spuren, die eine Ahnung verschaffen" - von mehr nicht.
Der Hilfserzieher im Internat im Stift Seitenstetten wird nach zweieinhalb Jahren vom Dienst suspendiert. Wolfgang ist nun 14 Jahre alt und überragt den Peiniger in Körpergröße und Muskelkraft. "Ich wusste, irgendwann werde ich stärker sein." 25 Jahre später macht er eine schriftliche Anzeige bei der Ombudsstelle, die die Kirche für Opfer von Gewalt und Missbrauch eingerichtet hat. Er verzichtet auf alle Ansprüche und Therapieangebote. Er will von diesen Dingen unabhängig bleiben, er will sich "nicht kaufen lassen", erklärt er.
Als er die Geschichte des missbrauchten Buben veröffentlicht, warnen ihn Kollegen. Er würde einer Kirche, die ohnehin schon schlecht dasteht, Schaden zufügen. "Das sehe ich nicht so, weil die Geschichte genau umgekehrt steht." Er will nicht Rache oder Vergeltung, sondern Klarheit - vor sich selbst und für die Kirche. "Ich gehe meinen Weg und will nicht vor Konsequenzen kneifen."
An der Universität Wien schlägt er eine Vortragsreihe zum Thema Missbrauch an Minderjährigen vor. Der Dekan stimmt sofort zu. Es soll um Aufklärung und Prävention gehen, der Titel ist "Verbrechen und Verantwortung". Internationale Experten und Expertinnen werden eingeladen. Auch Rom meldet sich zu Wort - positiv. Papst Franziskus schreibt: "Ich bin froh und dankbar für die Initiative." Treitler hält selbst einen Vortrag, er spricht über "Missbrauch und Gotteskrise". Der Hörsaal ist jedes Mal voll, es kommen junge Studierende und aber auch ältere Menschen, Priester, Ordensfrauen, Mitarbeitende der Kirche.
Keiner von uns ist allein!
Wolfgang Treitler weiß, viele Betroffene können ihr Leben lang nicht über die Verbrechen sprechen. Er sieht sich selbst als einen, der ihre Geschichte mitbespricht. In den letzten Monaten haben ihm immer wieder solche Menschen geschrieben. "Das ist eine namenlose Gemeinschaft von Verwundeten. Es sind Menschen, die Menschen geblieben sind", sagt er. "Keiner von uns ist allein. Keine ist allein. Das ist das Größte, was ich daraus mitnehme."
An die Täter hat er eine Botschaft: "Man darf sich nie darauf verlassen, dass die Dinge nicht ans Licht kommen."
Autor:Stefanie Jeller aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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