Zum 100. Geburtstag von Karol Wojtyla
Johannes Paul II. - der gute Hirte für die Welt
Vor 100 Jahren, am 18. Mai 1920, wurde Karol Wojtyla in Polen geboren.
Im großen Interview mit dem SONNTAG erläutert Kardinal Christoph Schönborn sehr persönlich und ausführlich die bleibende und faszinierende Bedeutung von Papst Johannes Paul II. Dieser war der erste Slawe als Bischof von Rom und regierte als Papst mit mehr als 26 Jahren am zweitlängsten in der Geschichte unserer katholischen Kirche.
Herr Kardinal, was fasziniert Sie bis heute an Johannes Paul II.?
Kardinal Christoph Schönborn: Er ist der Papst meiner bewussten Jahre im kirchlichen Dienst. Als er 1978 Papst wurde, war ich gerade einmal 33 Jahre alt und junger Professor an der Universität. Und als er 2005 gestorben ist, war ich 60 Jahre alt. Er hat die Jahre meines aktiven Dienstes sehr geprägt. Zuerst war da die unglaubliche Erfahrung: ein Mann aus einem kommunistischen Land, aus einem slawischen Land, der erste slawische Papst in der Geschichte der katholischen Kirche, der erste Papst aus Polen. Das war ein starker Aufbruch.
Ich kann mich erinnern an die faszinierendste der über hundert Auslandsreisen von Papst Johannes Paul, die erste große Polen-Reise im Jahr 1979. Es gibt darüber einen Dokumentarfilm, der heißt “Nine Days that changed the world” – “Neun Tage, die die Welt verändert haben”. Die polnische Regierung wollte ihm nur zwei Tage für seinen Besuch genehmigen. Es gab solche Proteste in der Bevölkerung, dass die Regierenden nachgegeben und ihm gesagt haben, er darf machen, was er will. Er ist neun Tage lang durch Polen gereist, von einer Stadt zur anderen, und Millionen Menschen haben ihn gesehen und seine Worte, seine Ermutigung gehört. Das war zweifellos der Grund, warum damals Moskau entschieden hat: Dieser Mann muss weg, der ist eine tödliche Bedrohung für das kommunistische System. Ich erinnere mich an ein Foto in einer deutschen Wochenzeitung, auf zwei Seiten, aufgenommen von dem Platz, an dem der Papst stand, hinein in die Menschenmenge. Man sah hunderte, tausende Gesichter, die alle gestrahlt haben. Es war kein einziges bitteres, finsteres Gesicht dabei. Diese Kraft der Veränderung hat dieser eine Mann gebracht. Diese Veränderung war unaufhaltsam. 1981 ist Solidarnosc entstanden, die erste freie Gewerkschaft, dann kam das Kriegsrecht in Polen mit allen Folgen, bis hin zum Attentat am Petersplatz am 13. Mai 1981.
Wie haben Sie vom Attentat 1981 erfahren?
Ich erinnere mich, wie wenn es heute wäre, wie ich diese Nachricht bei einem Schuster in Fribourg bekommen habe. Ich ging zu ihm, um meine Schuhe reparieren zu lassen, und der Mann sitzt weinend hinter seinem Werkzeug und sagt: „Eben hat man auf den Papst geschossen.“
Meine erste Begegnung mit Papst Johannes Paul II. war 1981, im Jahr des Attentats. Damals war ich jüngstes Mitglied der Internationalen Theologenkommission, einer Einrichtung, die nach dem Konzil entstanden ist, um die Arbeit des Konzils auf theologischer Ebene weiterzuführen. Da waren die großen Konzils-Theologen dabei, Karl Rahner, Yves Congar, Henri de Lubac und Hans Urs von Balthasar. Das Attentat war damals schon geschehen. Papst Johannes Paul war rekonvaleszent und hat uns, die Theologen-Kommission, im Oktober 1981 in Castel Gandolfo empfangen, wo er sich erholt hat. Dieser ersten Begegnung mit ihm sind viele weitere gefolgt: meistens im Rahmen der jährlichen Internationalen Theologen-Kommission, dann bei der Synode im Jahr 1985, an der ich als Theologe teilnehmen durfte. Dabei kam es auch zum ersten gemeinsamen Mittagessen mit Papst Johannes Paul, gemeinsam mit anderen Theologen.
Besonders eindrucksvoll war für mich die Heilige Messe in der Früh in der Privatkapelle seiner Wohnung, an der ich sehr oft teilnehmen durfte. Von Anfang an hat er jeden Tag Menschen zu diesem Gottesdienst eingeladen, so wie es auch Papst Franziskus heute macht. Wenn man die Kapelle betrat, war er immer schon da zum Morgengebet. Mein erster Eindruck war damals: Diese Kapelle ist dicht gefüllt mit der Kraft des Gebetes. So habe ich Johannes Paul vor allem erlebt. Es war physisch und spirituell spürbar, wie dieser Mann ins Gebet eingetaucht ist. Jahre später durfte ich einmal allein bei ihm zum Abendessen sein, nur mit seinem Sekretär. Das war die Zeit, als ich Redaktions-Sekretär des Katechismus war, da wollte er etwas bezüglich des Katechismus besprechen. Nach jeder Mahlzeit ging er in die Kapelle, ich durfte mitkommen. Und da hat er sich hingekniet, hat intensiv gebetet und hat sich überhaupt nicht gestört daran, dass ich da war, er hat auch zum Teil laut gesprochen. Unvergesslich. Ich habe damals gesagt: Er ist ein Fels des Gebetes. So habe ich ihn ganz besonders in Erinnerung.
Johannes Paul II. war vom 16. Oktober 1978 bis zu seinem Tod am 2. April 2005 26 Jahre und 5 Monate lang Papst. Was bedeuten diese Jahre für die Kirche?
Es war seine Aufgabe, nach dem großen Papst des Konzils, Paul VI., das Konzil umzusetzen. In seiner Zeit ist sehr viel geschehen, die Kirche ist wirklich Weltkirche geworden. Das haben seine Reisen gezeigt, die Internationalisierung der Kurie, die Ausweitung des Kardinalskollegiums auf die ganze Welt, auch seine vielen Kontakte. Und er war Hirte für die ganze Welt. Er hatte eine unglaublich starke Stimme, eine große moralische Autorität, auch im Konzert der Völker.
Freilich muss man dazusagen: Er war der Papst der Umsetzung des Konzils in einer Zeit, in der die nachkonziliare Krise deutlich spürbar geworden ist. Ich habe das als junger Theologe, als Professor miterlebt. Die Zerrissenheit in der Kirche kann man sich heute schwer vorstellen, die Spannungen zwischen konservativ und progressiv, zwischen dem liberalen und dem traditionellen Flügel. Der Kampf um jeden Bischofssitz: Kommt jemand Liberaler oder jemand Konservativer? Auch Österreich hat diesen Konflikt, diese Spannung intensiv erlebt. Johannes Paul II. war ganz eindeutig ein Mann des Konzils. Er hat das Konzil als die große Charta für das 21. Jahrhundert, für das neue Jahrtausend gesehen. Gleichzeitig war er, vielleicht geprägt durch seine Erfahrungen mit zwei totalitären Regimen, Nationalsozialismus und Kommunismus, auch besorgt um die Entwicklung der Kirche, dass sie wirklich in der Spur des Konzils bleibt und es nicht zu einem Bruch kommt.
Zu einem Bruch ist es gekommen mit den Traditionalisten. Schon unter Paul VI. hat sich Erzbischof Lefebvre in Richtung Spaltung bewegt, unter Johannes Paul II. ist es dann effektiv zur Spaltung gekommen. Die Piusbruderschaft und die Traditionalisten haben Papst Johannes Paul II., obwohl er jenseits jeden Verdachtes war, nicht orthodox, nicht rechtgläubig zu sein, für zu gefährlich liberal und zu konziliär gehalten. Auf der anderen Seite hatte er mit theologischen Entwicklungen zu tun, die auch mir damals als jungem Theologen Sorgen gemacht haben. Da hat er gegengesteuert, einerseits durch Bischofs-Ernennungen, andererseits auch durch disziplinäre Maßnahmen, Lehrverfahren, durch sein Lehramt.
Da gilt es noch ein Element hinzuzufügen: Johannes Paul II. war Ethiker, eigentlich mehr Philosoph als Theologe. Die Fragen der Moral, die Fragen der Ethik haben ihn intensiv umgetrieben. Deshalb ist auch sein Pontifikat stark von den Debatten um die Moraltheologie und besonders um das Erbe von Paul VI. in der Familienethik geprägt, konkret das Thema Empfängnis-Verhütung, Humanae Vitae. Das hat sein Pontifikat und die Auseinandersetzungen damit stark bestimmt.
Stark ausgeprägt war bei Johannes Paul II. auch die Soziallehre. Was bleibt von seinen großen Sozialenzykliken (u. a. Laborem exercens 1981, Centesimus annus 1991)?
Von seiner Soziallehre bleiben vor allem zwei Elemente. Von seinem personalistischen Ansatz als Philosoph und Theologe her war ihm immer wichtig: Der Mensch muss der Mittelpunkt aller wirtschaftlicher Bemühungen sein. Die Wirtschaft ist nur dann menschenwürdig, wenn der Mensch die Mitte der Wirtschaft und nicht das Objekt der Wirtschaft ist. Das hat er in seiner Enzyklika Laborem exercens stark hervorgehoben, in der er einen person-zentrierten Zugang zur Soziallehre entwickelt hat. Darin geht es um die Sicht auf die Arbeit, die Würde der Arbeit, um die Orientierung aller wirtschaftlichen Bemühungen auf das Wohl des Menschen. Damit hat Papst Johannes Paul II einen ganz wichtigen Beitrag zur Sozialethik, zur kirchlichen Soziallehre geleistet. Der zweite bedeutsame Schritt war die Enzyklika Centesimus annus. Im Jahr 1991, kurz nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, hat Johannes Paul II. mit dieser Sozial-Enzyklika prophetisch gesagt: Die Welt steht jetzt vor einer großen Entscheidung. Der Kommunismus hat sich durch seine inneren Widersprüche als nicht praktikables Wirtschaftssystem erwiesen, er ist in sich zusammengebrochen, an seinen Widersprüchen und an seinen Unmenschlichkeiten. Der Papst stellt die Frage: Wird sich die Welt entscheiden für den Weg eines grenzenlosen Kapitalismus? Oder wird sie sich entscheiden für einen Weg der sozialen Marktwirtschaft, also einer am Markt orientierten, mit sozialen Parametern und sozialen Maßstäben ausgerüsteten Wirtschafts-Lehre und Wirtschafts-Praxis? Wir wissen, wie die Welt sich entschieden hat: Sie hat sich eindeutig für einen grenzenlosen Kapitalismus entschieden.
Zum Nachhören: Interview von Redakteur Stefan Hauser mit Kardinal Christoph Schönborn über seine Erinnerungen an Papst Johannes Paul II.
Hat jetzt Johannes Paul II. sozusagen eine Kapitalismus-Schelte nach der Kommunismus-Schelte angefügt?
Nein, das hat er nicht gemacht. Er hat für die Sozialethik etwas äußerst Wichtiges gemacht. Ich halte Centesimus annus für eines der bedeutendsamsten Dokumente von Papst Johannes Paul, weil er eine positive Sicht des erfolgreichen Wirtschaftens entwickelt hat. Das war etwas Neues, dieser Aspekt war in der katholischen Soziallehre vernachlässigt worden. Dass ein Land nur gedeihen und prosperieren kann, wenn es der Wirtschaft gut geht, ist an sich eine Selbstverständlichkeit. Wir erfahren es in Österreich: Warum geht es uns so gut? Auch weil wir eine sehr gesunde und sehr erfolgreiche Wirtschaft haben. Und die sozialen Leistungen, die unser Land erbringen kann – das sieht man gerade in der Corona-Krise –, sind nur möglich, weil hier gut gewirtschaftet wird. Profit und wirtschaftlicher Erfolg werden in Centesimus annus nicht schlecht geredet, aber rückgebunden an die in Deutschland und in Österreich entwickelte Lehre von der sozialen Marktwirtschaft: Wirtschaftlicher Erfolg ist nur dann nachhaltig, wenn er den Menschen dient, wenn der Markt auch soziale Rahmenbedingungen hat. Im Rückblick muss man sagen, dass in der nachkommunistischen Zeit bei weitem nicht alles von Centesimus annus übernommen worden ist. Es hätte die Krise des Jahres 2008 nicht gegeben, die Wirtschaftskrise, die Finanzkrise, hätte man auf die Lehren von Centesimus annus mehr Rücksicht genommen.
14 Enzykliken entstammen der Hand von Johannes Paul II. Welche davon lesen Sie heute noch? Und warum?
Ich gestehe, dass ich bei einer Enzyklika immer noch dranhänge, weil sie mich so beeindruckt hat. Das ist Dominum et vivificantem, die Enzyklika über den Heiligen Geist. Ich habe sie auch in meine Vorlesung eingebaut und bin nach wie vor der Überzeugung, dass sie eine der ganz wichtigen ist.
Eine zweite Enzyklika, die für mein Leben auch eine große Rolle gespielt hat, ist Dives in Misericordia, Reich an Barmherzigkeit. Ich habe mit einigen Kardinalskollegen im Jahr 2008 begonnen, das Thema Göttliche Barmherzigkeit im Licht von Johannes Paul II. durch Kongresse der Barmherzigkeit zu fördern. Wir hatten bisher vier Weltkongresse der Pastoral der Göttlichen Barmherzigkeit. Inzwischen hat auf unsere Bitte Papst Franziskus den Heiligen Stuhl als Träger dieser Kongresse bestimmt, der Rat für die Neuevangelisierung der Völker ist für sie zuständig. Diese Kongresse sind stark von der Verkündigung Papst Johannes Pauls II. geprägt, vor allem von seiner Enzyklika Dives in Misericordia und seinem letzten Polen-Besuch 2002: Dabei hat Johannes Paul II. in seiner großen Ansprache in Łagiewniki, dem neu erbauten Heiligtum der Göttlichen Barmherzigkeit im Vorort von Krakau, mit seinen ganz persönlichen Erinnerungen an den Krieg und an seine Zeit als Zwangsarbeiter die Bedeutung der Göttlichen Barmherzigkeit für sein eigenes Leben betont. Er hat die Welt der Barmherzigkeit Gottes anvertraut und das Entscheidende gesagt: „Seid Missionare der Barmherzigkeit.“ Wir haben das mit Begeisterung aufgegriffen.
Inzwischen kann man sagen: Auf der ganzen Welt ist diese Saat von Papst Johannes Paul II. aufgegangen. Für mich ganz wichtig: Die Liebe zur göttlichen Barmherzigkeit und die Heiligsprechung von Schwester Faustyna als der ersten Heiligen des neuen Jahrtausends. Am Weißen Sonntag, dem Sonntag der Barmherzigkeit des Jahres 2000, hat er sie heilig gesprochen. Er selber hat viel dazu beigetragen, dass das Erbe der Schwester Faustyna in der ganzen Welt bekannt geworden ist. Diese beiden Enzykliken, über den Heiligen Geist und über die Göttliche Barmherzigkeit, sind für mich heute noch maßgebend.
Wie lässt sich die Spiritualität des polnischen Papstes umschreiben?
Da müssen wir auf die erste Enzyklika Johannes Pauls II. zurückgreifen, Redemptor hominis, sozusagen seine Programmschrift aus dem Jahr 1979. Wenn es eine Mitte der Spiritualität von Johannes Paul II. gibt, dann ist es Christus. Natürlich lässt sich sagen: Nein, das ist Maria. Maria spielt eine ganz große Rolle in seinem Leben, das stimmt. Aber das „Totus tuus“, das seine Papst-Devise ist, dieses Sich-ganz-Anvertrauen an Maria, das ist ein „per Mariam ad Christum“. Maria ist die, die uns zu Christus hinführt, die uns Christus zeigt. Die Wegweiserin, die Hodegetria, die uns, indem sie uns Christus zeigt, den Weg zeigt: „Tut alles, was er euch sagt.“ Dieses Wort Mariens bei der Hochzeit von Kana ist für Papst Johannes Paul, glaube ich, die Mitte der Spiritualität. Da steht eindeutig Christus im Zentrum. Das sieht man auch an seinen großen Bemühungen um das Jubiläumsjahr 2000. Das war ein Herzensanliegen von Johannes Paul: Diese Jahrtausendschwelle, diese zwei Jahrtausende seit der Menschwerdung Gottes, seit dem Kommen Jesu Christi, dieses große Jubiläum, auf das er so hingelebt hat und worauf er die Kirche vorbereitet hat, ist ganz auf Christus ausgerichtet. “Jesus Christ, you are my Life”, das war das Weltjugendtags-Lied vom Jahr 2000, ein unvergesslicher Weltjugendtag. Im großen Jubiläumsjahr: “Jesus Christus, du bist mein Leben”, das ist Johannes Paul.
Bleiben wir bei den Weltjugendtagen mit den Millionen jugendlichen Teilnehmern. Welche Erinnerungen verbinden Sie denn damit?
Ich bin sozusagen ein Late-Comer, ein Spät-dazu-Gekommener. Erst als ich Erzbischof war, bin ich zum ersten Mal auf einen Weltjugendtag gefahren, das war Paris 1997. Er hat mich so geprägt, dass ich dann versucht habe, auf allen weiteren Weltjugendtagen dabeizusein, obwohl schon zur älteren Generation gehörend. Aber ich glaube, das war einfach eine geniale Inspiration von Johannes Paul II.
Seinen ersten Besuch in Paris habe ich im Fernsehen gesehen. Ich erinnere mich dabei an eine Begegnung mit 80000 Jugendlichen in einem riesigen Stadion. Da habe ich gesehen, wie Johannes Paul II. mit 80000 Jugendlichen einen Dialog führt. Das ist wirklich hin und her gegangen. Das war zweifellos sein ganz großes Charisma. Er hat zwei Generationen von jungen Menschen zutiefst angesprochen, die sich nicht so sehr um die Kontroversen der Theologen gekümmert haben, sondern die ihn einfach erlebt haben. Wenn er im Sommer in Castel Gandolfo war, hat er oft Jugendliche eingeladen, mit ihm am Abend im Garten zu sitzen und zu musizieren und zu singen. Da gibt's unvergessliche Erinnerungen, wie er mitten unter den jungen Leuten ist, mit ihnen redet, sie versteht.
Diese Weltjugendtage haben immer wieder unvergessliche Bilder gebracht…
Zwei möchte ich nennen, weil sie wirklich wie Ikonen für diesen Papst sind. Das eine Bild ist der Weltjugendtag des Jahres 2000. Johannes Paul II. war schon sehr gezeichnet von seiner Krankheit. Er saß auf einem riesigen Podium mit vielen Jugendlichen um ihn herum. Wir Kardinäle saßen unten unter den Jugendlichen. Während dieser Weltjugendtags-Vigil ist plötzlich ein junger Bursche die Stufen zum Papst hinaufgerannt. Er war so schnell, dass die Wächter ihn nicht abfangen konnten. Er hätte den Papst erstechen können. Er rannte in einem rasenden Tempo hinauf und die zwei Millionen Jugendlichen sahen auf den großen Bildschirmen das völlig ruhige Gesicht des Papstes, wie er diesen jungen Mann auf sich zurennen sieht. Der Bursche fällt vor ihm auf die Knie, Johannes Paul II. umarmt ihn. Und es entsteht ein langer Dialog zwischen den beiden, den wir nicht gehört haben. Dieser junge Mann spricht mit dem Papst und der Papst mit ihm. Und die zwei Millionen Jugendlichen, die das gesehen haben, die haben verstanden: Dieser Mann mag uns, dieser Mann liebt uns, versteht uns, er hört uns zu. Diese Ikone ist für mich unvergesslich. Man kann sie sogar auf YouTube finden. Nicht das Hinaufstürmen des jungen Mannes, aber wie der Papst ihn in die Arme nimmt und wie sie miteinander intensiv reden.
Das bringt mich zu dem zweiten Bild, das mir unvergesslich ist. Nach dem 2. April 2005, nach dem Tod von Johannes Paul II., ist sein Leichnam in der Peters-Basilika aufgebahrt worden. Vier Millionen Menschen sind an seinem Sarg vorbeigezogen, die Mehrzahl waren junge Leute. Sie sind zum Teil 15 und mehr Stunden in endlosen Schlangen auf dem Petersplatz angestanden, nur um einen Blick auf ihn werfen zu können. Ich war als Kardinal damals privilegiert, wir durften direkt in die Basilika hinein. Aber unterwegs habe ich immer wieder junge Leute gefragt: Warum macht ihr das? Warum tut ihr euch das an? Ich weiß von jungen Leuten, die mit dem Nachtzug hinuntergefahren sind, dann 15 Stunden gestanden sind und dann wieder mit dem Zug zurückgefahren sind, nur um ihn einmal noch zu sehen. Die Antwort war einstimmig: „Wir haben einen Vater verloren.“ Das war sicher das Geheimnis von Johannes Paul II. und der Jugend.
Welche Erinnerungen haben Sie an den Papstbesuch 1998 in Österreich?
Der Besuch 1998 stand unter einem schwierigen Stern. Denn es war die Zeit, in der die Vorwürfe gegen meinen Vorgänger die Kirche enorm belastet haben. Da war schon die zweite Welle der Proteste und der Austritte. Und wir hatten doch sehr gehofft, dass Papst Johannes Paul II. ein Wort des Trostes und des Mitgefühls auch für die Betroffenen, für die Menschen, die darunter gelitten hatten, finden würde. Dieses Wort ist ausgeblieben. Das sagt sicher etwas über die späten Jahre von Papst Johannes Paul II., die geprägt waren von seiner Krankheit, die er unglaublich heldenhaft getragen hat. Er war mit dem Thema “Missbrauch” irgendwie überfordert. Ich glaube, er war ein so lauterer Mensch, dass er sich das nicht vorstellen konnte. Ich weiß es nicht. Das war ein Schatten auf seinem Besuch, der nicht mehr die große Begeisterung ausgelöst hat wie der Besuch 1983. Diesen habe ich selber nicht erlebt, damals war ich Professor in der Schweiz. Aber ich weiß durch viele Erzählungen von der großen Begeisterung im Jahr 1983.
Im Jahr 1998 war schon der lange Schatten des Abschieds spürbar, durch seine Krankheit und sicher auch wegen der belasteten Geschichte zwischen Österreich und ihm. Obwohl er unser Land so geliebt hat und noch der Kaiserin Zita, wie er sie empfangen hat, gesagt hat: “Ich bin der Sohn eines Ihrer Offiziere.” Sein Vater war in der kaiserlichen Armee gewesen, und er hatte immer eine besondere Liebe zu Österreich. Aber das Verhältnis zwischen ihm und unserer Ortskirche war belastet. Durch Bischofsernennungen, durch die internen Spannungen war dieser dritte Besuch von Papst Johannes Paul kein Triumphzug. Aber er hatte einige sehr berührende Noten, und das möchte ich doch in Erinnerung rufen. Für mich war einer der bewegendsten Momente, wie er, schon am Weg zurück zum Flughafen, im Hospiz der Caritas Socialis im dritten Bezirk in Wien haltgemacht und die Sterbenden besucht hat. Er selber war schon sehr gezeichnet von der Krankheit, und dann dieser Besuch bei den Sterbenden. Das war ein ganz starkes Zeichen.
Und eine kleine Erinnerung darf ich auch noch anfügen. Die Messe am Heldenplatz ging zu Ende, am Schluss wurde das Ave Maria von Anton Bruckner gesungen. Es konnte nicht geplant sein in der Regie: Der letzte Ton dieses wunderbaren Ave Maria verklingt. Und im selben Moment beginnen über ganz Wien die Glocken zu läuten. Es war zwölf Uhr. Da habe ich mir gedacht: Wie wunderbar. Die Regie der Menschen ist wichtig, aber die Regie des Himmels ist immer noch stärker. Für mich ist Papst Johannes Paul ein deutliches Zeichen der Regie des Himmels.
Manche Bischofs-Ernennungen waren im Pontifikat von Johannes Paul II. ein wunder Punkt für viele Gläubige. Inwieweit ist ein Papst bei der Auswahl von Bischöfen konkret involviert? Was wissen Sie da?
Das ist sehr unterschiedlich. Johannes Paul II. hat bei den polnischen Ernennungen sehr direkt darauf geschaut, weil er das Land kannte. Er hat auch in Österreich sehr genau darauf geschaut, weil ihm Österreich wichtig war. Und das ist sicher ein schmerzlicher Punkt. Seine Wahl zum Papst, so sagt man, war sehr stark geprägt vom Einfluss Kardinal Franz Königs, der seinen Namen sehr unterstützt und gefördert hat. Kardinal König hatte seine Zusage, so heißt es, er werde einbezogen in die Entscheidung über seine Nachfolge.
Johannes Paul hat dann etwas gemacht, was er immer wieder getan hat. Er hat, und das ist sein Recht, sozusagen vertikal entschieden. Das hat oft sehr spannende und prägende Bischofs-Ernennungen gegeben. Ich erinnere an Kardinal Martini, den großen Jesuiten, der von Johannes Paul II. zum Erzbischof von Mailand ernannt worden ist und der sicher eine der ganz großen Bischofs-Gestalten Europas geworden ist. Das war eine direkte Ernennung von Johannes Paul II., an allen Institutionen oder allen Gremien vorbei. So war es auch mit Paris. Der jüdische Kardinal Lustiger war eindeutig eine ganz persönliche Wahl von Johannes Paul II. Kardinal Lustiger kam sozusagen nicht aus dem Apparat. Nein, das war eine charismatische Entscheidung von Johannes Paul. So dürfte es auch mit meinem Vorgänger gewesen sein: eine sehr persönliche Entscheidung. Wir wissen, wie es dann gelaufen ist. Kardinal Groër hatte zweifellos auch große Verdienste. Aber es hat sich hier wohl als unglücklich erwiesen, dass es nicht das normale Auswahlverfahren gab.
Aber, wie auch das portugiesische Sprichwort sagt: Gott schreibt auf krummen Zeilen gerade. So wie wir in der Osternacht singen: „O glückliche Schuld.“ Es gibt so etwas wie Fügungen Gottes, die nicht ganz geradlinig sind, sondern auch unser menschliches Versagen einbeziehen. Und insofern glaube ich, dass bei den Bischofs-Ernennungen der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre, die so umstritten waren, Gott seinen Text, seine Regie trotzdem weiterführt. Ich kann nur im Blick auf mich selber sagen: Der Papst ist nicht unfehlbar mit Bischofsernennungen. Ich weiß selber, wie gebrechlich ich bin und wie viele Fehler ich habe. Petrus war ein Mann voller Schwächen, und trotzdem hat ihn Jesus erwählt, und er ist eben Petrus geworden. Und so kann man im Rückblick sagen: Johannes Paul II. war einer der ganz großen Päpste. Zweifellos hatte er Schwächen. Welcher Mensch hat sie nicht? Aber auch diese Schwächen waren Teil einer ganz großen Persönlichkeit. Für mich bleibt dieses Bild: Als Kardinal Ratzinger die Begräbnis-Messe für Johannes Paul II. hielt, lag auf seinem einfachen Sarg das Evangelium. Der Wind hat die Seiten des Evangeliums umgeschlagen. Johannes Paul II. hat Seiten des Evangeliums für die Kirche von heute geschrieben.
Im Gedächtnis der Kirche sind auch die beiden interreligiösen Friedenstreffen in Assisi (1986 und 2002) geblieben. Was beabsichtigte der Papst damit? Und Johannes Paul II. hat auch beim Dialog mit dem Judentum Meilensteine gesetzt. Warum hat er sich so sehr dem Judentum verbunden gewusst?
Zuerst zum Dialog mit dem Judentum. In seiner Schul-Klasse in Wadowice waren nicht wenige jüdische Mitschüler. Das war die polnische Kultur. Bis zu seinem Lebensende war Johannes Paul mit einem jüdischen Freund, der den Krieg, die Shoa überlebt hat, in enger Freundschaft verbunden. Diese sozusagen von Kindheit an gelebte Nachbarschaft miteinander, mit den Juden und damit mit dem Judentum, hat sein Leben zutiefst geprägt. Ein großer jüdischer Rabbiner hat gesagt: Was Johannes Paul II. in den Jahren seines Pontifikats für die Verbesserung des Verhältnisses des Christentums zum Judentum geleistet hat, das ist mehr, als viele Jahrhunderte es getan haben. Sein Besuch in der römischen Synagoge 1986 war ein absoluter Durchbruch.
Sein Dialog mit den Religionen ist auf massiven Widerstand bei den Traditionalisten gestoßen. Das war dann auch einer der Punkte, wo Johannes Paul II. von Seiten der Traditionalisten massiv in Kritik geraten ist. Aber von seiner Sicht des Menschen her war für ihn jeder Mensch, egal welcher Religion, ein Geschöpf Gottes und daher auch vom Glauben her ein echter Partner. Es gibt einen Satz des Zweiten Vatikanums, den Johannes Paul II. wahrscheinlich am häufigsten von allen Texten zitiert hat, aus Gaudium et spes 22: “In seiner Menschwerdung hat der Sohn Gottes sich in gewisser Weise mit allen Menschen verbunden.” Das hat Johannes Paul II. gelebt. Für ihn war das ganz konkrete Realität, wenn er in Damaskus in die Moschee gegangen ist, wenn er in Marokko vor Tausenden jungen Muslimen in einem Stadion gesprochen hat. Diese vielen Begegnungen mit anderen Religionen bei seinen Asien-Reisen waren für ihn etwas ganz Lebendiges und hatten mit dem Kern seines Glaubens zu tun: dass er als Christ, als Bischof und Papst mit Christus verbunden, daher auch mit allen Menschen verbunden ist.
Welche Hoffnungen verband Johannes Paul II. mit dem Katechismus der Katholischen Kirche (KKK)?
Das war für ihn schon ein spannendes Projekt. Je weiter es gewachsen und gereift ist, desto deutlicher wurde, dass es wirklich sein Katechismus wurde, der Katechismus seines Pontifikats, der Katechismus des Zweiten Vatikanischen Konzils. Natürlich hat hier die Zusammenarbeit mit Kardinal Ratzinger eine große Rolle gespielt: dieses tiefe Vertrauen zwischen den beiden, das totale Vertrauen von Papst Johannes Paul II. in die theologische Kompetenz von Kardinal Ratzinger, den er beauftragt hat, die Kommission zur Erstellung des Katechismus zu leiten. Und Ratzinger ist dann tatsächlich der Architekt gewesen. Ich durfte dazukommen, als Redaktionssekretär, der vor allem eine einende Aufgabe hatte, die vielen Elemente in einen gemeinsamen Stil, in eine gemeinsame Schrift, in eine gemeinsame Sprache zu bringen. Aber das Projekt war in dem Moment, als Johannes Paul II. den Katechismus promulgiert hat, sein Katechismus, so wie der Katechismus von 1566 der Katechismus vom Papst Pius V. ist. Der KKK ist der Katechismus von Johannes Paul II.
Autor:Stefan Kronthaler aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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