Covid19: „Die Bedrohung der Existenz ist für viele Frauen dramatisch!“
Sollen die Frauen wieder zurück an den Herd?

Für viele Frauen ist es eine Überwindung, zu uns zu kommen. Sie sagen sich, ich schaffe das. Sie kommen erst, wenn die Not so groß ist, dass es nicht mehr tragbar ist.  | Foto: (Symbolfoto)Pixabay
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  • Für viele Frauen ist es eine Überwindung, zu uns zu kommen. Sie sagen sich, ich schaffe das. Sie kommen erst, wenn die Not so groß ist, dass es nicht mehr tragbar ist.
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Die Vereinten Nationen erwarten im Zuge der Coronakrise langfristige Einkommensverluste für Frauen und einen Einbruch der Frauenerwerbsquote. „Viele Frauen haben große finanzielle Zukunftsängste“, sagt Doris Anzengruber, Leiterin der Caritas Sozialberatung in Wien. Im SONNTAG-Sommergespräch erzählt sie von verzweifelten Frauen, die ihre existentiellen Sorgen viel zu lange versteckt halten.

Unter der Corona-Krise leiden sowohl Männer als auch Frauen – keine Frage“, betont Doris Anzengruber. Sie ist Leiterin der Caritas Sozialberatung in Wien. „Aber die Maßnahmen zur Eindämmung der Krise und ihre Folgen treffen Frauen härter. Das spüren wir ganz deutlich.“ Anzengruber weiß, wovon sie spricht: Gemeinsam mit ihrem Team nahm und nimmt die Leiterin der Caritas Sozialberatungsstelle seit Ausbruch der Corona-Krise täglich bis zu 200 Hilfsanfragen von in Not geratenen Menschen entgegen. Der SONNTAG hat bei ihr nachgefragt:

  • Wir sprechen über die Corona Krise und ihre Auswirkungen auf Frauen. Als Leiterin der Caritas Sozialberatung haben Sie gespürt, unter welchen Stress Frauen während des Lockdowns geraten sind. Was waren die vorwiegende Probleme, mit denen die Frauen zur Beratung gekommen sind?

DORIS Anzengruber: Wir haben seit Mitte März unglaublich viele Anrufe von Frauen erhalten, viele davon Alleinerzieherinnen. Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit war und ist ein großes Thema. Die Bedrohung der Existenz war für viele dramatisch. Eine Mutter mit drei Kindern zum Beispiel hat in einer Schulkantine gearbeitet und plötzlich keinen Job mehr gehabt. Für sie ist auch derzeit unsicher, ob sie, wenn die Schulen im Herbst wieder beginnen, eine Stelle erhalten wird. Viele Frauen haben bei uns geweint und waren verzweifelt, weil sie plötzlich in so eine Situation geraten sind. Wir haben versucht, sofort schnell und unbürokratisch Überbrückungshilfen zu leisten. Denn die staatlichen Hilfen sind lange nicht in Kraft getreten.

  • Können Sie uns etwas über Betroffene erzählen?

Eine Masseurin ist mir stark in Erinnerung geblieben. Sie hat schon Anfang des Jahres gemerkt, dass immer weniger Kundinnen zu ihr kommen, weil es schon Ängste vor Ansteckung gab. Mit Mitte März war ihr Einkommen gleich Null. Sie hat einen 16-jährigen Sohn, der eine Lehrstelle hat. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es für sie war, die Miete und die Energiekosten zu bezahlen. Sie war verzweifelt und hat sich an uns gewandt. Sie hatte nie damit gerechnet, bei uns um Hilfe bitten zu müssen. Wir konnten mit Überbrückungshilfe, die durch Spenden möglich war, diese alleinerziehende Mutter unterstützen.

  • Was für eine Rolle spielt das Thema Scham für die Betroffenen?

Das spielt eine große Rolle. Für viele Frauen ist es eine Überwindung, zu uns zu kommen. Sie sagen sich, ich schaffe das. Sie kommen erst, wenn die Not so groß ist, dass es nicht mehr tragbar ist. Wenn sie kommen, schämen sie sich. Unsere Beraterinnen nehmen ihnen dieses Gefühl.

  • Wie wichtig ist die Solidarität unter Frauen in diesen Fällen? Und fehlt es an Solidarität, weil jede für sich kämpft?

Wir kennen das ja selbst auch, dass wir nicht so schnell jemanden um Hilfe bitten. Es ist wichtig, dass Frauen in der Krise sämtliche Adressen kennen, an die sie sich wenden können. Das Thema Einsamkeit war zu Beginn der Corona­krise ein großes Thema. Die Caritas hat Lebensmittel zugestellt und das Plaudernetz eingerichtet. Dort konnten Einsame mit anderen über‘s Telefon ins Gespräch kommen.

Doch diese Phase ist noch lange nicht vorbei. Frauen brauchen viel Unterstützung, um ihren Alltag mit Kindern, Haushalt und Arbeit bewältigen zu können.

  • Sehen Sie die Gefahr, dass es einen Trend gibt, dass die „Frauen zurück an den Herd“ müssen?

Ich befürchte ja. Bei den Frauen, die bei uns anfragen, ist es grundsätzlich oft so, dass sie für sehr viel Bereiche im Haushalt alleine verantwortlich sind. Das hat sich durch die Corona-Situation verstärkt, weil viele mit den Kindern alleine zu Hause sind. Viele Frauen haben erzählt, dass sie jetzt alleine für das Essen kochen und mit den Kindern Hausübungen zu machen verantwortlich sind. Da müssen wir aufpassen, dass sich das nicht wieder einspielt. Da gab es schon ein besseres Selbstverständnis innerhalb einer Familie zu sagen, wir teilen das, oder wir schauen, dass wir das gemeinsam gut schaffen.

  • Wie können Frauen ermutigt werden?

Frauen sind mutig und stark. Sie schaffen so viel und das tagtäglich. Das habe ich in den Jahren als Sozialarbeiterin immer wieder gesehen. Die meisten Frauen sind unglaublich stark. Sie waren mit Not und Leid konfrontiert und geben nicht auf. Die Betroffenen sehen das oft nicht, aber man kann es ihnen nicht oft genug sagen. 
Existentielle Sorgen, Quarantäne und eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit führen zu einem deutlichen Anstieg von häuslicher Gewalt. Die Leidtragenden sind in den meisten Fällen Frauen. Der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen rechnet mit 31 Millionen zusätzlichen Fällen von häuslicher Gewalt, wenn der Lockdown sechs Monate anhält. 
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  • Wie kann jeder von uns seine Sensibilität diesem Thema gegenüber schärfen?

[/b][/i]Ich erzähle Ihnen ein Beispiel. Eine Frau kam zu uns in die Beratungsstelle, um über ihre Schulden bei einem Energieanbieter zu sprechen. Sie hatte sichtbare Verletzungen und konnte sich auch kaum bewegen. Es war offensichtlich, dass sie Gewalt ausgesetzt war. Ich habe sie über Frauenberatungsstellen informiert. Anfangs hat sie gemeint, sie braucht das nicht. Aber ich habe sie immer wieder darauf angesprochen. Ein halbes Jahr später hat sie mich angerufen und mir erzählt, dass sie sich Hilfe geholt hat und ihr es jetzt viel besser geht. Was will ich damit sagen? Man darf einfach nicht aufgeben und oft braucht es viele Anläufe für betroffene Frauen, etwas zu tun.

  • Sie haben das Thema öffentlich gemacht, dass Tampons, Binden und Unterwäsche für obdachlose Frauen oft nicht leistbar sind. Wie kam es dazu?

Die Leiterin der Obdachloseneinrichtung „Haus Miriam“ hat erzählt, dass immer wieder Frauen kommen, die kein Geld haben um sich Damenhygiene kaufen zu können. Und an Stelle von Damenhygiene Socken verwenden. Daher sind wir damit an die Öffentlichkeit gegangen. Es kamen sehr viele positive Rückmeldungen, das wir das thematisiert haben. Das macht obdachlose Frauen sichtbarer.

  • Sie sind Leiterin der Caritas Sozial­beratung Wien. Wollten Sie immer in diesem Feld arbeiten?

Ja. Ich wusste das schon im Gymnasium, ich wollte immer Sozialarbeiterin werden. Manchmal wünsche ich mir, dass ich auch ein Wirtschaftsstudium gemacht hätte. Ich würde gern verstehen, wieso viele Milliarden in die Wirtschaft gepumpt werden können und wir im sozialen Feld so hart um jeden Cent kämpfen müssen, um die Mindestsicherung und andere staatliche Hilfen.

  • Was ist denn das besonders Bereichernde an Ihrer Arbeit?

Frauen, die in großen Notsituationen stecken und trotzdem so viel Kraft haben, die beeindrucken mich. Ich weiß nicht, ob ich das unter solchen Umständen so auch schaffen würde. Als Studentin habe ich in einer Wohngemeinschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gearbeitet. Dort habe ich ein 17-jähriges Mädchen aus Nigeria kennengelernt. Sie hatte eine dramatische Geschichte, es ging um Sexarbeit und Menschenhandel. Ich habe viel Zeit mit ihr verbracht und sie hat mich sehr beeindruckt. Mittlerweile hat sie eine Familie und drei Kinder. Sie arbeitet in einer Tischlerei.

An sie muss ich oft denken, wenn ich Beratungen mache. Sie ist eine Stellvertreterin für viele andere, die bewiesen haben: alles ist möglich!

Autor:

Michaela Necker aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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