Reinhard Haller im Gespräch
Das Böse kann man nur schwer fassen
Gerichtspsychiater und Bestseller-Autor Reinhard Haller begleitet die Leser und Leserinnen des "Sonntag" durch die Fastenzeit. Ein Gespräch über Schuld und Versöhnung, Rache und Verzeihung als Auftakt der Serie:
Ihr neuestes Buch, das im April erscheinen wird, beschäftigt sich mit Rache. Das klingt nach einem düsteren Buch ...
Haller: Rache spielt im Leben eine enorm wichtige Rolle, ist aber voll tabuisiert. Wahrscheinlich haben wir uns alle schon einmal gerächt. Jeder Mensch hat Rachegedanken und ist schon Opfer geworden. Es ist ein lebensbegleitendes Gefühl. Wenn wir es besser kennenlernen, wird es entschärft. Es ist komplexer, widersprüchlicher, vielfältiger als alle anderen Gefühle. Es gibt aber kaum wissenschaftliche Arbeiten über Rache. Und man schämt sich für Rachefantasien.
Woher kommt diese Scham?
Haller: Rache ist verpönt. Entweder man spielt den „starken Mann“ und macht Rache öffentlich, oder man tabuisiert sie. Rache löst einerseits Lust und Befriedigung aus, andererseits Schuldgefühle, ein „schlechtes Gewissen“, weil sie als moralisch verwerflich gilt. Man will mit Rache einen Ausgleich herstellen, den Selbstwert reparieren, den anderen strafen, der es gewagt hat, einen zu demütigen. Vergebung heißt, auf Rache zu verzichten. Die Rache-Spirale ist das Problem. Dadurch wird Rache überdimensional groß.
Wie ist Vergebung möglich?
Haller: Vergebung ist Ausdruck eines reifen, souveränen, gelassenen Charakters, der über die Schädigung hinwegsehen kann. Wenn der Mensch Vergebung üben will, ist das etwas Starkes, nichts Schwaches. Religiös gesagt, bringt Vergebung das Liebesgebot radikal zur Anwendung. Rache gehört zur Grundausstattung der menschlichen Gefühle. Ist Rache süß oder bitter? Am Anfang süß, doch wird sie später durch die Schuldgefühle bitter. Die Frage ist, wie ich mein inneres Gleichgewicht wiederfinden kann, wie ich mich von der Rache entlasten kann.
Wie kann man jemandem vergeben, der die Schuld nicht einsieht? Der Mann, der seine Frau und vier kleine Kinder verlässt, um mit einer neuen Freundin zu leben. Ist es nicht zu viel verlangt von der Frau, ihm zu vergeben?
Haller: Vergeben ist nicht zu verwechseln mit vergessen. Die Wunde kann vernarben, man kann sich von negativen Gefühlen befreien. Den Fokus muss man in so einer Situation auf sich selbst legen, nicht auf den anderen. Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die linke hin, sagt die Bibel. Das schaffen die meisten Menschen nicht. Die Frage ist: Wie bewegen wir uns in eine kultivierte Richtung, mit Kränkungen umzugehen?
Sie hatten und haben als Gerichtsgutachter viel mit Verbrechern zu tun. Was ist das Böse? Ist es eine eigene Kraft?
Haller: Das Böse kann man schwer fassen. Niemand hat eine umfassende Definition, obwohl wir doch alle wissen, was gemeint ist. Wahrscheinlich brauchen wir das Böse. Wo Licht ist, ist Schatten. Wenn der menschliche Wille frei ist, muss er sich auch zum Bösen entscheiden können, nicht nur zum Guten. Ich denke, das Böse ist das Fehlen der positiven Empathie, der Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen.
Gibt es so etwas wie eine böse Absicht? Oder entsteht Böses, weil die Täter nicht zum Guten fähig sind?
Haller: Man kann sich zum Bösen entscheiden. Natürlich wird das Böse oft im Namen des Guten getan, das galt für die Kreuzritter genauso wie die Dschihadisten und sogar für die Hexenverbrennungen. Die Kreuzritter würden sich wundern, wenn wir ihnen sagen würden, dass wir ihre Taten heute anders beurteilen als sie. Es gibt aber auch Menschen, die tatsächlich etwas Böses tun wollen. An sich ist der Aggressionstrieb ein Überlebenstrieb. Ein Tier reißt ein anderes, um sich Nahrung zu verschaffen. Auch der Mensch hat ein hohes Maß an Aggressivität. Aggressivität ist Lebenskraft. Wenn man sie kultiviert, ist sie konstruktiv, nicht destruktiv. Das ist unsere eigentliche Aufgabe: Das Potenzial des Bösen in positive Formen zu sublimieren. In der Realität schaukeln sich Emotionen empor, Alkohol oder Drogen enthemmen, auch psychische Störungen wie der Wahn können zum Bösen verführen. Die soziale Situation ist ausschlaggebend, wie bei den vielen Nationalsozialisten, die überzeugt waren, ihre Pflicht zu tun.
Sie haben jahrzehntelang eine Klinik für Suchtkranke geleitet. Da ist die Grenze besonders dünn: Wo ist Krankheit? Wo ist Schuld? Wo ist Unfähigkeit, sich zu ändern?
Haller: Sucht als böses Verhalten zu definieren bringt überhaupt nichts. Wenn sich Süchtige schuldig fühlen, werden sie erst recht zum Suchtmittel greifen. Sucht ist eine Krankheit, für die man wirklich nichts kann. Oder es ist ein Selbstheilungsversuch, zum Beispiel aus der Depression. Schuld beginnt dort, wo Sie nichts dagegen tun. Zuckerkranke sind auch nicht schuld, dass sie krank sind, aber sie können Diät halten.
Herr Haller, wie sind Sie denn ursprünglich dazu gekommen, sich so intensiv mit den dunklen Seiten des Lebens zu beschäftigen?
Haller: Das weite Land der Seele hat mich immer fasziniert. Man kann es nicht mit Berechnungen erfassen, es spielt sich in anderen Dimensionen ab. Man kann es nie begreifen. Körper, Geist und Seele gehören zusammen. Für die Gesundheit sind alle drei Dimensionen wichtig. Die Beschäftigung mit diesen Zusammenhängen hat mich interessiert und erfüllt.
Die Corona-Pandemie bedeutet für viele Menschen eine enorme psychische Belastung. Wie bleiben wir in der Krise gesund?
Haller: Es ist wichtig, dass wir eine gewisse Widerstandskraft und Bewältigungsstrategie entwickeln. Wir sind die erste Generation, die keinen Krieg und keine große Katastrophe durchgemacht hat. Corona ist so etwas wie ein anti-narzisstisches Virus. Spätestens seit der Jahrtausendwende leben wir in einer narzisstischen, selbstverliebten Gesellschaft. Die Pandemie zeigt, dass wir verletzliche Wesen, endliche Wesen sind. Globalisierung und Reisewut stoßen an ihre Grenzen. Ein Problem, das ohnehin schon groß war, ist jetzt unübersehbar: die Vereinsamung der Menschen. Dieses große Problem wird es auch nach Corona geben.
Wichtig in der Krise ist, nicht nur auf das Angstvolle, sondern auf das Positive zu blicken. Wir können den Zusammenhalt stärken, Durchhaltevermögen entwickeln. Dann kommt noch die Verunsicherung dazu, dass das Ende nicht absehbar ist. Aber Pandemien gehen immer vorbei. Auch die Spanische Grippe ging nach zwei Jahren vorbei. Die Impfung ist eine große Erleichterung.
Die Vereinsamung bleibt auch nach Corona, haben Sie gesagt. Was können wir dagegen tun?
Haller: Institutionen, die eigentlich gemeinschaftsbildend sind, sind in der Krise – Kirchen ebenso wie zum Beispiel Parteien oder Gewerkschaften. Wichtig ist, dass wir trotz aller digitalen Möglichkeiten die Empathie – face to face – nicht zu kurz kommen lassen. Am meisten gefährdet sind die Älteren. Depressionen und Phobien führen zu Vereinsamung. Es ist wichtig, sie zu behandeln. Corona sensibilisiert für dieses schwierige Thema.
Wie ist die Spanische Grippe eigentlich zu Ende gegangen?
Haller: So ein Virus mutiert oder verschwindet wieder. Auch Corona wird früher oder später in eine harmlosere Form mutieren oder verschwinden, wie es gekommen ist.
Autor:Gerald Heschl aus Kärnten | Sonntag |
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