Gedanken zum Evangelium: 31. Sonntag im Jahreskreis
Wollen wir das wirklich wissen?
Für jüdische Menschen sind Gebote viel wichtiger als Bekenntnisse, betonte letzte Woche ein Gesprächspartner aus dem Judentum. Ich hatte schon die heutige Bibelstelle im Kopf und dachte: Ja, genau, die Frage nach dem wichtigsten Gebot ist eine jüdische Frage.
Geht es aber Jesus um mehr als die Gebote, und wollen wir das wirklich wissen?
Neulich saß ich an einem Tisch mit einem Juden, einem Leiter einer katholischen Pfarre aus Oberösterreich, einer Journalistin und einem Journalisten. Koschere Kekse wurden herumgereicht. Da sagte der Jude, dass die Evangelien jüdische Texte seien und für jüdische Wissenschaftler eine der wichtigsten Quellen zur Erforschung des Judentums zur Zeitenwende. Das war mir zwar nicht neu, aber hatte ich es wirklich verstanden?
Die vielen Diskussionen und Streitgespräche zwischen Jesus und den Schriftgelehrten sind nicht bloß Gespräche mit Juden, sondern unter Juden. „Höre Israel, der Herr unser Gott ist der einzige Herr!“, sagt Jesus im heutigen Evangelium. Er zitiert das jüdische Morgen- und Abendgebet, und er spricht alle an: den Gelehrten, der ihn nach dem wichtigsten Gebot gefragt hatte; alle anderen, die herumstehen und ihm zuvor unfaire Fangfragen gestellt hatten; die ursprünglichen, jüdischen Leserinnen und Leser des Evangeliums. Ja, auch uns heute. Wir, die Nichtjuden, sind gewissermaßen die Dazugekommenen, wir sind angesprochen, wenngleich nicht als Erste.
Das Gespräch über das wichtigste Gebot ist eines der wenigen guten Gespräche mit Schriftgelehrten, die überliefert sind. Das Wichtigste, sagt Jesus, sei, Gott mit allen Kräften zu lieben und den Nächsten wie sich selbst. Der Gelehrte sieht das genauso. Zum Schluss sagt Jesus noch etwas, das neugierig macht: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Was also fehlt ihm noch?
Wollen wir das wirklich wissen? Ich wäre vorsichtig. Ein paar Kapitel zuvor hatte jemand diese Frage gewagt: Was fehlt noch? Jesus sagt ihm: „Geh und verkaufe alles, was du hast, und gib das Geld den Armen!“ Es sind nicht die (jüdischen) Gesprächspartner, denen etwas fehlt. Es sind wir alle, die wir an unserem Besitz hängen.
Mir ist das ehrlich gesagt eine Nummer zu groß. Noch. Ich hoffe trotzdem, nicht fern vom Reich Gottes zu sein.
Gott zu lieben mit all meinen Kräften und den anderen genauso wie mich, das ist schon eine fast unmögliche tägliche Herausforderung.
Evangeliumskommentar als PDFAutor:Stefanie Jeller aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.