Gedanken zum Evangelium: 4. Fastensonntag
Der verlorene Bruder
In der früheren Einheitsübersetzung stand: „Da teilte der Vater das Vermögen auf.“, in der Einheitsübersetzung von 2016 steht hingegen: „Da teilte der Vater das Vermögen unter sie auf“. Als ich das gelesen habe, waren manche Fragen, die mir zu diesem Evangelium gestellt worden sind, auf einmal noch klarer beantwortet.
Manche Leute – oft sehr empathische – haben mir immer wieder gesagt, dass sie den zweiten, also den älteren Sohn, durchaus verstehen. Es könne doch nicht sein, dass der Brave, der keine Probleme verursacht, nie etwas bekommt, um z.B. einmal mit seinen Freunden ein Fest zu feiern. Wahrscheinlich hat der Vater doch etwas falsch gemacht in seiner Liebe. Denn wenn er wirklich ein Bild für Gott ist, dann müsste ihm doch aufgefallen sein, dass sein älterer Sohn etwas braucht und auch was er braucht.
Ich habe dann den Vater verteidigt mit dem Argument, dass der ältere Sohn offensichtlich nicht verstanden hat, was für den Vater ganz klar war: „Alles, was mein ist, ist auch dein.“ Dieser Sohn müsste also nicht auf das Ableben seines Vaters warten, sondern könnte schon jetzt (und auch schon früher) einfach aus dem Vollen schöpfen. Er bräuchte auch nicht darauf zu warten, bis ihm der Vater etwas gibt.
Mit der völlig richtigen Übersetzung des „unter sie“ wird klar, dass der Vater das Vermögen nicht zwischen sich und dem jüngeren Sohn aufgeteilt hat, sondern auf beide Söhne. D. h., dass auch der ältere Sohn seinen Teil erbt in dem Moment, in dem ihn der jüngere erbt. Gut, der Vater tritt nicht gleich ab, sondern hat offensichtlich das Recht, weiterhin über sein Vermögen zu verfügen. Das ist aber angesichts der Fülle auch kein Problem. Wenn sich der ältere Sohn also beschwert, dass er nichts bekommen hätte, dann muss man sagen: Er hat etwas verschlafen.
Als der Vater hört, dass der ältere Sohn nicht zum Fest gehen will, geht er auch ihm entgegen – und damit ist nicht nur eine geografische Ortsveränderung gemeint. Er will ihn abholen von dem Punkt, an dem er steht. Die Frage ist allerdings: Ist dieser Sohn überhaupt bereit, sich abholen zu lassen? Das wissen wir nicht, denn Jesus lässt das Gleichnis hier enden. Somit bleibt die Frage offen. Und es stellt sich eine neue: Welcher der beiden Söhne ist am Ende der verlorenere?
Fazit: Die räumliche Nähe zum Vater bedeutet also nicht automatisch eine innere Nähe zu ihm, bedeutet also nicht, die Haltungen des Vaters übernommen zu haben, in diesem Fall die Haltung der Hoffnung auf die Rückkehr des jüngeren Sohnes, das Nicht-einen-einzigen-Vorwurf-Machen, die übergroße Freude und die Großzügigkeit, ein Riesenfest auszurichten.
Dieses Gleichnis war eine massive Anfrage an alle, die sich zur Zeit Jesu als die „Braven“ gesehen haben, und es ist eine massive Anfrage an alle, die heute „nahe hierbei sind“, ja sogar für Gott arbeiten. Unter Umständen haben sie von seinen Haltungen keine Ahnung. Was mich selbst betrifft, habe ich eine Hoffnung: Der Vater kommt auch mir entgegen …
Autor:Markus Muth aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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