Gedanken zum Evangelium: 32. Sonntag im Jahreskreis
Den Finger in die Wunde legen
Die Kritik Jesu an den Schriftgelehrten wurde von der damaligen Elite in Jerusalem als unerhörtes Vergehen angesehen. Ich frage mich: „Wie wirkt dieser Vorwurf Jesu heute auf uns? Wen würde die Kritik Jesu an den Schriftgelehrten heute treffen? Wer würde heute in unserer Gesellschaft am Pranger stehen, entlarvt und aufgedeckt, wie die Schriftgelehrten von damals?“
Jesus legte den Finger in die Wunden einflussreicher Männer. Es traf sie so sehr, dass sie es allein aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung nicht akzeptieren konnten. Jesus musste daher zum Schweigen gebracht werden und sie setzten alles daran, um ihn loszuwerden. In dieser Situation stellte Jesus eine arme alte Witwe in den Mittelpunkt, sie wurde zum Kontrastbild gegen das Getue und den Überfluss, der im Tempel zur Schau gestellt war. Ihre Gabe in den Opferkasten wurde für die Jünger Jesu ein Beispiel für eine gelebte Opfergabe, denn sie gab alles, was sie besaß, und legte somit ihr ganzes Leben in Gottes Hände. Wir wissen nicht, ob Jesus die Witwe ansprach, auch wissen wir nicht, wie es mit ihr weiterging und wer sich ihrer annahm oder ob sie für ihren Lebensunterhalt betteln musste.
Jesus führt uns mit einem kritischen Blick vor Augen, was wirklich wichtig ist, wenn er sagt: „… den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer“. (Markus 12,33) Nicht eine fromme Show ist Jesus wichtig, sondern ein in sich gelebter Glaube und Gottvertrauen. Dazu fordert uns Jesus immer wieder durch seine Gleichnisse und Worte auf.
In den Lesungen für diesen Sonntag begegnet uns eine zweite Frau, die neunhundert Jahre davor lebte. Beide Frauen haben viel gemeinsam, sie lebten in Israel, sie waren verwitwet und arm. Der Prophet Elija begegnete der Witwe und ihrem Sohn, sie hatten nur mehr so viele Lebensmittel, sodass diese für ein allerletztes Mahl reichten. Trotz allem folgte sie der Aufforderung Elijas, ihm ein Stück ihrer letzten Vorräte zu geben. (1 Könige 17,10-16)
Objektiv betrachtet war es nur wenig, was die beiden Witwen geben konnten, aber sie erreichten in ihrer schwierigen Lage eine Haltung innerer Größe, die mächtige und reiche Personen schwer erreichen können. Trotz ihrer Armut gaben sie ihre Überschüsse der Nächstenliebe, des Vertrauens, des Glaubens an andere weiter, sie wurden so zu einer Gabe, die Gott gefällt.
Autor:Günter Mayer aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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