Biblische Gestalten - Judas
"Der" Kuss der Weltgeschichte
Durch eine einzige Handlung hat sich einer der zwölf Apostel tief in das jahrtausendealte Gedächtnis der Christenheit eingeschrieben.
Die Tat des "Judas-Kusses" steht allerdings nicht nur für Verrat, sondern zugleich für mehr, wie der Neutestamentler Martin Meiser im Gespräch mit dem SONNTAG sagt.
"Du Judas!" – das ist wohl eine der schlimmsten Bezeichnungen, die sich Menschen an den Kopf werfen können. Warum ruft „Judas“ in jedem von uns so verschiedene Assoziationen hervor? Professor Martin Meiser, er lehrt Neues Testament an der Universität des Saarlandes, über Judas Iskariot – den Verräter unter den zwölf Aposteln.
- Judas steht landläufig für Verrat und Treulosigkeit, für Habgier und Falschheit. Was ist an dieser Zusammenfassung bedenklich? Oder gar verkürzend und falsch?
Martin Meiser: Die Zusammenfassung ist nicht von vornherein bedenklich. Es gibt den Missbrauch der Arglosigkeit, Falschheit in der Vorspiegelung einer guten Beziehung, Habgier als Motivation des Handelns, es gibt zerstörtes Leben durch eine Judastat.
Dass Menschen dazu gebracht werden können, wie Judas zu handeln, ist Systemkomponente jeder Diktatur, aber leider auch jenseits von Diktaturen immer wieder zu erleben.
Andererseits: „Judas!“ reicht aus, um jemanden unwiderruflich als Verräter, Heuchler, Denunzianten zu diskreditieren, ihn auf diese eine Tat zu reduzieren. Mit Blick auf die Zehn Gebote – „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ – sind wir zur Vorsicht gemahnt.
Was auf jeden Fall falsch war und ist, den einen Judas Iskariot als Symbol für die Juden aller Zeiten zu nehmen, wie das vor allem mittelalterliche Theologie, Frömmigkeit und Kunst mitbestimmt hat, aber auch jenseits dieser zeitlichen Grenze wirksam geworden ist.
- Warum ist der sogenannte „Judas-Kuss“ zum Symbol des schlimmsten Vertrauensbruches geworden?
Der Judaskuss verwendet eine ursprünglich unter Verwandten übliche Geste als Möglichkeit, dem in diesem Moment schutzlosen Gegenüber nahezukommen. Gerade das in einer Beziehung unter Verwandten und Freunden Übliche wird zum Einfallstor des Unerwarteten, des Zerstörerischen.
Der Kuss, ausgeführt als Kuss auf die Stirn oder die Wange, ist auch in den jungen Gemeinden als „heiliger Kuss“ im Sinne eines Symbols der Zusammengehörigkeit geübt worden (1Thess 5,26; 1Kor 16,20). Für die ersten Christinnen und Christen muss die Erfahrung eines Judaskusses insofern besonders schmerzlich gewesen sein.
- Einfach gefragt: Warum hat damals Gott nicht zugunsten von Jesus und Judas eingegriffen?
Der Einblick in den Ratschluss Gottes bleibt uns Menschen verwehrt, wie wir auch einen anderen Menschen – und auch uns selbst nur mit gewissen Grenzen überhaupt kennen können. Wiederum steht am Anfang und am Ende jeder Erklärung das bloße Faktum bzw. Nicht-Faktum.
Allerdings hat auch dieses Nicht-Faktum eine moraltheologische Dimension: Menschen bleiben, wie ja auch die Erfahrung zeigt, nicht immer vor den schlimmen Folgen der Fehlentscheidung anderer Menschen bewahrt. Dem Menschen ist deshalb als Aufgabe gestellt, bereits im Vorfeld sein Handeln (und auch sein Nicht-Handeln) in Verantwortung auf mögliche Konsequenzen für andere hin zu prüfen.
- Wie ist die unterschiedliche biblische Darstellung des Lebensendes von Judas nach Matthäus 27,3-10 und Apostelgeschichte 1,16-20 zu verstehen?
Historisch ergibt das Nebeneinander beider Texte mit ihren Unterschieden, dass man über das Lebensende des Judas Iskariot hinsichtlich des Ortes, des Zeitpunktes und des äußeren Anlasses schon bald nichts mehr Genaues wusste.
Es gab nur die undeutliche Erinnerung daran, dass ein bestimmtes Grundstück damit in Zusammenhang steht – aber in welchem, war nicht mehr klar. Judas Iskariot ist nach der Gefangennahme offenbar nicht mehr in den Kreis der Anhänger Jesu zurückgekehrt.
Theologisch ist im Matthäusevangelium die Reue des Judas (Mt 27,3) das Gegenbild zu der Haltung der Hohenpriester, die sich trotz seiner Bezeugung der Unschuld Jesu (Mt 27,4) nicht von ihrem Vorgehen gegen Jesus abbringen lassen – leider hat dieser Kontrast zwischen Judas und den Hohenpriestern bei vielen Christen vor allem in der Spätantike und im Mittelalter antijüdische Vorteile verstärkt.
Der Suizid des Judas ist für Matthäus vermutlich Ausdruck dessen, dass Judas keine Perspektive mehr für sich sah. In der Apostelgeschichte ist der Tod des Iskariot mit einer Anspielung an Weisheit Salomos 4,19 als Tod des Gottesverächters gezeichnet. Apg 1,25 enthält eine implizite Warnung vor dem Straftod auch an die Adresse der Leserinnen und Leser (vgl. dazu auch Apg 5,1–11).
- Wie lässt es sich in wenigen Sätzen seriös von der Gestalt des Judas sprechen?
Die neutestamentlichen Texte sind selbst schon Teil der Wirkungsgeschichte dieser Gestalt. In historischer Perspektive ist festzustellen: Judas gilt von Anfang an als Mitglied des Zwölferkreises, den Jesus zur Sammlung des endzeitlich erneuerten Gottesvolkes Israel als Multiplikatoren seines Wirkens berufen hat (Mk 3,14f.).
Als Jesus gefangengenommen wird, erscheint Judas plötzlich auf der Gegenseite. Nach der Gefangennahme Jesu ist Judas nicht mehr im Kreis der Anhänger Jesu zu finden – schon über seinen Tod weiß man nichts Sicheres mehr. Über die Hintergründe seines Handelns wissen wir historisch nichts.
Die neutestamentlichen Evangelien arbeiten an der Gestalt des Judas innergemeindliche Probleme ab, die Erfahrung des Ausgeliefertwerdens in den eigenen Reihen (Mk 13,9.12), Habgier und Heuchelei (Mt 26,14.50), das Unbegreifliche des Bösen, das selbst im innersten Kreis der Gemeinde wirkt (Lk 22,3), die Realität des Unglaubens in den eigenen Reihen (Joh 6,64.70).
Den einen Judas zur Zeit Jesu als Symbol für alle Juden aller Zeiten zu nehmen ist nicht gerechtfertigt. Manche Fragen lassen sich nicht beantworten, z.B. die Frage, warum Gott nicht eingegriffen hat – sie verweisen uns auf die Aufgabe, im Bewusstsein der Rätselhaftigkeit des Schicksals zwischen realer Judaserfahrung und Undurchsichtigkeit eigenen wie fremden Erlebens ein Ethos des Denkens, Redens, Schreibens und Handelns zu entwickeln, das sich der eigenen ethischen Gefährdung stets bewusst ist.
Autor:Stefan Kronthaler aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.