Im Gedenken an Ex-Politiker Norbert Blüm
"Schämt ihr euch denn nicht?"

Norbert Blüm (1935-2020) | Foto: Markus A. Langer

Der frühere deutsche Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm ist am 23. April 2020 im Alter von 84 Jahren in Bonn gestorben.

Im Mai 2016 bei einem Besuch in Wien hat er im SONNTAG-Interview starke Kritik an der europäischen Flüchtlingspolitik geübt: "Wenn 500 Millionen Europäer keine fünf Millionen Flüchtlinge aufnehmen können, dann müssen wir den Verein 'Europa' schließen."

Sie waren in Bonn Student von Professor Joseph Ratzinger. Was haben Sie von seinen Vorlesungen mitgenommen?
Norbert Blüm: Joseph Ratzinger hat gelehrt: „Der Papst ist der Bischof von Rom und wer mit ihm in Tischgemeinschaft lebt, das Brot bricht, ist katholisch. Er ist sozusagen der Notar der Einheit, mehr nicht.“ Sein Rücktritt vom Papstamt ist die größte theologische Leistung eines Papstes in Jahrhunderten. Erstens war es der Beweis, dass Benedikt XVI. nicht machtversessen war, wie es ihm öfters unterstellt wurde. Zweitens die theologische Bedeutung: Das Papstamt ist ein Dienst, das ist kein magischer Zauber. Der Papst hat keine Spezialleitung zum lieben Gott und keine solistische Autorität, er schöpft aus dem Glauben der Kirche. Ratzinger hatte diese Lehre nicht nur theoretisch beherzigt, sondern praktisch vorgeführt. Ich war im November letzten Jahres bei ihm und da hat er das auch so einfach erklärt: "Es ist wie bei einem alten Bauer. Wenn dieser nicht mehr kann, übergibt er dem Sohn, bleibt aber Bauer." "Servus servorum Dei" ist ein Titel des Papstes – Diener der Diener Gottes. Das hat Ratzinger vorexerziert und dafür bin ich ihm dankbar.

Welchen Einfluss hatte die christliche Soziallehre auf Ihre Sozialpolitik?
Die großen Entscheidungen in der Sozialpolitik sind nicht kommunistischer oder sozialistischer auch nicht liberaler Natur. Die Sozialversicherung ist ein subsidiäres Gebilde, weder mit Steuergeldern bezahlt noch privat, sondern ein Zwischending. Solidarische Selbsthilfe ist ein original christlich-sozialer Ansatz. Mitbestimmung ist weder auf dem Boden des Liberalismus noch des Sozialismus entstanden, sie stammt von einem christlichen Grundgedanken. Arbeitnehmer als Miteigentümer entspricht der christlichen Eigentumsidee, nämlich Eigentum für alle, nicht für ein paar. Die Subsidiarität ist das Gliederungsprinzip der Solidarität. Vorfahrt hat die personennähere Gesellschaft, die kleine Gemeinschaft geht der größeren vor. Erst wenn die kleine Gemeinschaft nicht mehr kann, schreitet die größere ein. Der Staat ist nur der letzte, aber nicht der erste, der gerufen wird. Die Liberalen sagen, jeder sorgt für sich und wenn jeder für sich sorgt, ist auch für alle gesorgt. Die sozialistische Idee sagt, der Staat weiß immer alles besser. Wir befinden uns dazwischen, keine ganz kommode Platzierung, weil wir von zwei Seiten angegriffen werden.

Wie hat Ihre Begeisterung für die europäische Idee begonnen?

Als 16-Jähriger sind ich und andere Gesinnungsfreunde mit dem Bus nach Den Haag zu einer Europakundgebung gefahren. Von der Rede von Paul Henri Spaak zu den 10.000 Jugendlichen habe ich kein Wort verstanden, sie war in französischer Sprache. Aber was mir bis heute in Erinnerung geblieben ist: Um das Rednerpult standen in einem großen Kreis Männer aus allen Ländern Europas. Sie hatten nur eine Gemeinsamkeit: Jedem dieser Männer hat irgendwas gefehlt – entweder ein Bein oder ein Arm oder die Augen. Die Kriegsversehrten, die gegeneinander gekämpft haben, wollten dieses Europa. Aus dem Leiden haben sie die Konsequenz gezogen: "Nie mehr Nationalismus in Europa!" Diese Botschaft ist leider schwächer geworden. Die materiellen Elemente der Europäischen Union haben plötzlich die ideellen überwogen. Europa hat den Euro, was ich begrüße, für mein Herz reicht es nicht. Für mein Herz reicht nur ein Europa mit der Idee der Freiheit und Solidarität. Ein Europa, das in der Flüchtlingsfrage versagt und in dem es nur ums Geld geht, das brauche ich nicht. Ich brauche ein Europa, das sein Gewicht in den Versuch einer neuen Weltordnung einbringt, in welcher der Mensch wichtiger ist als das Kapital.

Brauchen wir mehr oder weniger Europa?
Wir brauchen ganz entschieden mehr Europa und weniger Nationalismus. Der Nationalstaat ist ein alter Hut, eine Sache von gestern, der bestenfalls 200 Jahre alt ist. Er ist eine Zwischenstation in der menschlichen Entwicklung, hat ungeheuer viel Leid über die Menschen gebracht und hat sie zu Kriegen geführt, die hirnlos waren. Zwischen Deutschland und Frankreich haben wir in 70 Jahren dreimal Krieg geführt, ob der Grenzstein rechts von Elsass-Lothringen oder links eingegraben wird. Die Nationalisten tun immer so, als wäre der Nationalstaat etwas von Gott Gegebenes oder zumindest etwas natürlich Gewachsenes. Beispiel Südtirol: Ist die Grenze Tirols gottgegeben? Waren die Donaumonarchie oder das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nationale Gebilde?

Aber jetzt werden verstärkt die Grenzen abgeschottet, Zäune entstehen.
Das ist ein Programm für Dummköpfe. Wenn sie nicht dumm sind, dann ist es verantwortungslos. Dumm sind sie, weil es diese Grenzen gar nicht geben wird. Sie sollen mir sagen, wie man unter der Bedingung von 2016 mit Grenzen Europas Sicherheit schaffen möchte. Wollt ihr über die Zugspitze auch eine Mauer bauen? Wollt ihr an jedem Ufer im Atlantik, in der Nordsee, Ostsee, Adria überall Soldaten hinstellen? Ich schlage vor, alle 100 Meter einen. Wollt ihr am Brenner wieder jedes Auto kontrollieren? Ihr müsst andere Lösungen finden: erstens die Ursachen für Flüchtlinge beseitigen. Sie kommen nicht als Touristen, sondern um ihr Leben zu retten. Zweitens müssen wir in Europa die Flüchtlingsfrage solidarisch lösen. Wenn 500 Millionen Europäer keine fünf Millionen Flüchtlinge aufnehmen können, dann müssen wir den Verein „Europa“ schließen.

Sie waren in Idomeni und haben ein Zelt aufgeschlagen.
Das war eine symbolische Aktion, für die ich mich gar nicht besonders brüste. Denn ich war dort nur eine Nacht, die Flüchtlinge liegen dort wochenlang im Schlamm, um nicht zu sagen in der Scheiße. Drei oder fünf Zelte neben mir lag eine Frau mit ihrem Kind, das gerade zehn Tage alt war. Zwei Tage waren sie im Spital, dann wurden sie wieder zurückgeschickt. in den kalten Schlamm. Das im Jahre 2016 und in einer Zivilisation, die stolz darauf ist, dass wir Menschen zum Mond transportiert haben, und die demnächst den Mars besiedeln möchte. Meine Frage an die Politiker: Schämt ihr euch nicht, ihr großen Bonzen? Werdet ihr nicht rot im Gesicht?

Welche Bedeutung haben Religionen künftig in Europa?
Das ist wieder eine Stunde der Religion. Was mich so wundert: Manche unserer Mitbürger fühlen jetzt das christliche Abendland durch die Muslime bedroht. Die Christen, die bedroht sind, sehe ich mehr im Fitnessstudio als in der Kirche. Aber plötzlich entdecken Leute, die sich gar nicht mehr als Christen empfunden haben, welcher Schatz doch die christliche Kultur bietet. Vielleicht bringt es auch ein Nachdenken, was das Christentum Europa gebracht, warum es so wertvoll ist. Freilich muss die katholische Kirche jetzt auch ihren Namen rechtfertigen, dass sie katholisch ist und nicht national. Es gibt keinen ungarischen oder polnischen Katholizismus, nur einen katholischen Katholizismus.

Spielt in einer so schwierigen Zeit die kleinste Keimzelle des Staates, die Familie, wieder eine stärkere Rolle?
Während wir einerseits gezwungen sind, uns in die große Weltverantwortung zu begeben, in die größere politische Dimension Europa, wird andererseits regionale Identität, Heimat, Familie immer wichtiger. In einer Welt, in der alles in Bewegung ist, wird plötzlich der Wert von sicheren überschaubaren Lebensverhältnissen geschätzt. Wir werden die Globalisierung nur aushalten, wenn wir sie durch die Stabilisierung von kleinen Lebenskreisen, Regionen und Familien, gegenlagern. Die Bürgermeister werden wichtiger als die Bundeskanzler. Diese Globalisierung darf nicht eine Uniformierung werden. Der Reichtum liegt in der kulturellen Vielfalt und diese drängt nach Verwirklichung, nicht national, sondern regional. Wir müssen diese Eigenheiten pflegen, damit die Welt ein Großkonzert bleibt und keine Monotonie des Kapitalismus.

Autor:

Stefan Hauser aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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