Stadtbummel mit Roland Girtler
Ein Euro und eine Mozartkugel
Roland Girtler ist ein unkonventioneller Sozialwissenschaftler, denn er kennt keine Berührungsängste mit gesellschaftlichen Randkulturen. Seine Herzlichkeit begleitet ihn seit jeher, der Glaube ist ihm wichtig. Ein Porträt.
Ich treffe Roland Girtler zum Stadtbummel im Grätzl am Wiener Spittelberg. Seit beinahe sechs Jahrzehnten wohnt er dort mit seiner Frau. „Ich liebe die Gegend und das viele historisch Erhaltene hier“, zeigt sich der Soziologe begeistert und erzählt: „Bis 1850 war der Spittelberg eine eigenständige Gemeinde“. War der Ruf hier zu wohnen in früheren Zeiten nicht der beste, hat sich das stark gewandelt. Heute ist es schick, am Spittelberg beheimatet zu sein. Roland Girtler stammt aus Wien. 1941 hier geboren, kommt er bald nach seiner Geburt mit dem Bruder und der Mutter in die deutsche Lüneburger Heide. „Mein Vater lag dort verletzt im Zweiten Weltkrieg im Krankenhaus.“
Lausbub in Oberösterreich
Nach seiner Genesung geht es für die Girtlers ins oberösterreichische Spital am Pyhrn. Dort arbeitet der Vater als Gemeindearzt. „Wir haben uns einmal mit einem Freund einen Spaß gemacht und die Feuerwehrsirene eingeschaltet. Die Feuerwehr rückte mit voller Ausrüstung aus, dafür erhielten wir alle eine saftigen Watsch‘n“, erinnert sich der immer gut aufgelegte Roland Girtler noch heute schmunzelnd daran. Er sieht sich auch in der weiteren Nachfolge des französischen Seefahrers Jacques Cartier. „Spuren von ihm finden sich in der Lebensgeschichte meiner Urgroßmutter, der Tochter eines französischen Offiziers. Ich muss da aber noch weiterforschen“, lässt er diesbezüglich einiges offen.
Bierausfahrer und Komparse
Roland Girtlers Weg in die Soziologie ist nicht vorgezeichnet. Nach der Matura am Kremsmünsterer Stiftsgymnasium geht es für ihn auf Wunsch des Vaters zum Studium der Rechtswissenschaften nach Wien. Nach zwei Staatsprüfungen hört Roland damit auf. „Das bedeutete aber auch das Ende der Unterstützung von zu Hause.“ Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. „Ich habe Gemüse am Naschmarkt verkauft, Bier ausgefahren und war Filmkomparse, einmal sogar in einem Film mit Omar Sharif. Er spielte den Erzherzog Rudolf, mich steckten sie in eine Uniform.“
Krankenhausaufenthalt führt in die Soziologie
Dann passiert ein schicksalhafter Unfall. „Ich war in Wien mit meinem Motorroller unterwegs, da stößt mich ein Autofahrer mit seinem Mercedes nieder.“ Girtler kommt mit einem offenen Unterschenkelhalsbruch ins Spital. Dort wird er vier Monate im Spitalbett verbringen. „Neben mir im Schlafsaal sind arme Leute gelegen, zum Beispiel ein Landwirt, der mir sein Testament diktiert hat.“ Dort lernt er auch einen Mann aus dem Rotlichtmilieu kennen. „Ich war von den Gesprächen mit ihm fasziniert und wechselte dann in die Soziologie.“ Girtler kennt keine Hemmungen, im Milieu der „Strizzis“ seine Feldforschung zu betreiben. Kurz ausgedrückt geht es dabei um das Sammeln von wissenschaftlich auswertbaren Daten an Ort und Stelle über Verhältnisse in der Wirklichkeit. So ist Girtler einige Zeit in Indien auf Forschungsreise, wo er das Leben der armen Leute in Bombay teilt und ihre Rechtssysteme erforscht. 1971 macht er sein Doktorat, 1979 habilitiert er sich an der Uni Wien.
Ritual im Opferkörberl
Der nach eigener Bezeichnung vagabundierende Kulturwissenschaftler Roland Girtler ist seit jeher gerne mit dem Rad oder zu Fuß in Wien unterwegs. Der Weg führt ihn oft an den Donaukanal oder nach Maria Grün im Prater. Eine besondere Freundschaft verbindet den Soziologen, der Ende Mai 80 Jahre alt wurde, mit Schottenabt Nikolaus Poch. „Er ist Pfarrmoderator in unserer Pfarre St. Ulrich am Spittelberg, ich gehe dort jeden Sonntag in den Gottesdienst.“ Girtler hat eine Gewohnheit, für die er in der Kirche bekannt ist: „Ich gebe in das Opferkörberl immer einen Euro und dazu eine Mozartkugel.“ Im ersten Lockdown, als Pfarrmoderator Poch den Gottesdienst im Internet streamt, sagt er einmal in der Predigt, so Girtler: „Der Mensch benötigt Rituale, bei uns fehlt etwas, es ist die Mozartkugel“. Diese erhält übrigens ein Ministrant oder der Mesner. Roland Girtler schätzt am Kirchenbesuch auch das Miteinander danach: „Sich austauschen können, das ist für die Menschen wichtig. Es erinnert an das historische Symposion, wo man miteinander redet und sich hilft, und man feiert miteinander.“
Schreibender Kollege von Kardinal Schönborn
Auch mit Wiens Erzbischof Kardinal Christoph Schönborn hat Roland Girtler eine Verbindung. „Wir schreiben beide am Sonntag in der ‚Krone bunt‘“, der Beilage der größten Tageszeitung des Landes. Kardinal Schönborn schreibt über seine wöchentliche Evangeliumsbetrachtung, während Girtler in seinen Streifzügen Begegnungen und Hintergründe festhält. „Ich bin bei einem Ostergottesdienst in der Nähe der unteren Sakristei im Stephansdom gestanden. Als mich der Herr Kardinal gesehen hat, hat er mir ein ,Grüß Gott, Herr Kollege!‘ zugerufen“, erinnert sich Roland Girtler.
Brief aus dem Vatikan
Im Heiligen Jahr 2000 machte sich Roland Girtler mit dem Rad auf von Wien nach Assisi. Auf den alten Pilgerwegen war er unterwegs. Darüber schrieb er das Buch „Die Lust des Vagabundierens“. Darüber hat er später Papst Franziskus in einem Brief berichtet. „Als ich den aufgegeben habe, bat mich der Postler, dass er den Brief fotografieren darf, denn es war für ihn nicht alltäglich, einen Brief an den Papst weiterzuleiten.“ Zur Überraschung des Wissenschaftlers bekam Girtler aus dem Vatikan Antwort: „Ich habe einen Brief aus dem Staatssekretariat erhalten, in dem stand, der Papst bedankt sich für die netten Worte und bittet um Ihr Gebet“. Girtler hat diesen Brief immer in der Brusttasche seines Sakkos bei sich.
Als Ehrenkieberer strafbefreit
Der Soziologe ist auch „Ehrenkieberer“, das hat ihm schon geholfen. „Ich war in Klosterneuburg mit dem Rad unterwegs, auf einmal war der Radweg zu Ende und ich bin am Gehsteig weitergefahren. Da hält ein Polizeiauto, der Uniformierte hält mich an und sagt: ‚Das wird jetzt teuer werden, am Gehsteig radfahren und telefonieren‘“, schildert Girtler lächelnd. Denn er zog seinen Ausweis als „Ehrenkieberer“ heraus, und die Uniformierten sahen von einer Strafe ab. So konnte der soziologische „Strizzi“ wieder grüßend weiterziehen, wie er es auch in seiner wöchentlichen Kolumne beschreibt.
Autor:Stefan Hauser aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.