Jane Goddall - Mutter der Schimpansen
„Du musst immer weitermachen“
Seit 86 Jahren lebt Jane Goodall für den Schutz unserer nächsten Verwandten. Durch ihre Arbeit wissen wir, wie sehr wir die Affen unterschätzt haben und wie ähnlich uns die Tiere sind: Schimpansen küssen einander. Und sie führen Kriege. Sie umarmen sich, halten Händchen und trauern. Haben Schimpansen gar ein Gespür für Gott?
Jane Goodall sitzt in der Suite eines Grand Hotels unweit des Wiener Stephansdoms. Gepolsterte Möbel, weiche Teppiche, schwere Vorhänge, ein Luster hängt tief über den Tisch. „Wenn ich wählen könnte“, sagt die 85-jährige Britin am Ende unseres Interviews, „wäre ich jetzt lieber in der Natur.“
In der Natur hat Jane Goodall einen Großteil ihres Lebens verbracht. Und doch sollte sie unser Denken verändern: Als sie im Juli 1960 im Gombe Nationalpark in Tansania ankommt, ist die Naturwissenschaft nämlich noch überzeugt: Werkzeuge benützen kann nur der Mensch allein. Affen fehlt es an Verstand. Jane Goodall ist da 26 Jahre jung, sie wird das alte Weltbild stürzen.
In der Dokumentation „Jane“ liegt in einer Szene eine tote Schimpansin am Fluss. Daneben ihr Sohn. Immer wieder berührt er seine tote Mutter. Sie erzählen: Der Affe hörte auf zu essen. Nach zwei Wochen war er tot. Offensichtlich trauern Schimpansen über ihre Geliebten?
Daran gibt es gar keinen Zweifel! Schimpansen trauern. Viele andere Tiere auch. Ich weiß nicht, warum wir gedacht haben, dass nur Menschen diese Gefühle haben können. Schimpansen zeigen ihre Trauer, indem sie zum Beispiel aufhören zu essen, depressiv werden, sich zurückziehen.
Abgesehen von Empathie, kennen Schimpansen auch Spiritualität? Überspitzt gesagt: Glauben Affen an Gott?
Das kann ich mir nicht vorstellen, aber: Manchmal versammeln sich Schimpansen an einem der tosenden Wasserfälle tief im Wald und machen einen, ich nenne es, Wasserfall-Tanz. Sie schreiten hin und her, heben große Steine auf, werfen sie hinein. Manchmal klettern sie auch die Ranken neben dem Wasserfall hoch und stoßen sich in den Windwall des Wasserfalls. Am Ende sitzen sie da und beobachten, wie das Wasser kommt und geht. Blicken auf den Wasserfall. Was ist dieses seltsame Zeug, das immer kommt und immer geht und doch immer da ist? Das mag zu einer frühen Art der animistischen Anbetung und Beschwörung geführt haben. Aber Schimpansen haben keine Worte dafür. Sie können zwar das Gefühl der Ehrfurcht vor dem Wasserfall teilen, aber sie können nicht darüber reden.
In Ihrem Buch „Reason for Hope: A Spiritual Journey“ erzählen Sie, dass Sie als Mädchen und junge Frau sehr religiös waren, die Bibel intensiv gelesen – und eine eigene Bibel-Box gebastelt haben.
Ja, ich war sehr religiös, als ich jung war. Meine Familie nicht. Gelegentlich gingen wir in die Kirche. Ich habe mich in einen Pfarrer platonisch verliebt und ging dann sooft wie möglich in die Kirche. Ich glaube, er hatte nicht die geringste Ahnung davon.
Zuhause hatten wir ein wunderschönes Jesus-Bild, wie er die Hand ausstreckt, um ein kleines Schaf zu retten, das über die Klippe gefallen war. Das hat mich berührt – ich glaube, wegen der Tiere. Als ich älter wurde, bin ich nach London gegangen – und habe meine platonische Liebe vergessen. Für die Kirche hatte ich keine Zeit mehr.
Heute fühle ich, vor allem draußen im Wald, diese große spirituelle Energie – das gibt mir Kraft. Der Wald ist wie eine Kathedrale.
Haben Sie noch Ihre kleine Bibel-Box?
Ja! Manchmal hole ich die Bibel-Box hervor – sie besteht aus sechs kleinen Zündholzschachteln, die sich mit einem kleinen Büroklammer-Griff öffnen lassen. In der Box sind kleine Schriftrollen. Ich weiß gar nicht, wie viele. Ich habe mich der ganzen Bibel gewidmet, um diese Box zu füllen. Habe Bibel-Zitate in die Box getan.
Vor jeder Reise hole ich die Bibel-Box und ziehe eine Schriftrolle. Einmal ist es mir passiert – ich war gerade in einer grantigen Stimmung, wollte nicht weg und schon wieder packen – dass ich zufällig dreimal hintereinander dieselbe Rolle gezogen habe: Sinngemäß stand dort: Wenn du ein Feld zu pflügen beginnst und stoppst, wirst du das Reich Gottes nicht erben! Du musst weitermachen!
Glauben Sie an Vorherbestimmung?
Ich fühle sehr stark, dass ich in diese Welt gesetzt wurde mit einem bestimmten Grund. Und dass ich eine Mission habe. Alles, was ich zu tun hatte, – glaube ich –, war die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit zu treffen. So bin ich von einem zum nächsten gezogen. Jetzt ist offensichtlich der letzte Teil meines Weges gekommen – und der liegt darin zu versuchen, Menschen Hoffnung zu geben in sehr dunklen Zeiten.
Haben Sie viel opfern müssen, um Ihren Traum zu leben?
Ich habe mein gesamtes Privatleben aufgegeben! – Worüber ich wirklich traurig bin ist, dass ich jetzt keinen Hund haben kann. Ich liebe Hunde. Früher habe ich einige Hunde gehabt. Heute ist mein Zuhause dort, wo ich mit meiner Schwester aufgewachsen bin. Das Haus gehört mir, meine Schwester lebt darin mit ihrer Familie – und ihrem Hund. Also immerhin: Wenn ich nachhause komme, dann kann ich mit dem Hund spazieren gehen.
Sie haben das Programm „Roots & Shoots“ gegründet, in dem Sie Kinder und Jugendliche weltweit motivieren, sich für Menschen, Tiere und die Umwelt einzusetzen. Was raten Sie jungen Menschen, die nach ihrem Platz in dieser Welt suchen?
Die wichtigste Botschaft ist: Jeden Tag deines Lebens bewirkst du etwas! Und du entscheidest, welche Wirkung du hast!
Als ich zehn Jahre alt war, habe ich davon geträumt nach Afrika zu gehen und mit wilden Tieren zu leben und Bücher darüber zu schreiben. Jeder hat mich ausgelacht. Wir hatten kein Geld, der Zweite Weltkrieg war im Gange, und ich war ja nur ein Mädchen.
Meine Mutter war aber anders. Sie hat zu mir gesagt: Wenn du wirklich etwas willst, dann musst du wirklich viel arbeiten, musst jede Gelegenheit nützen, die kommt. Und gib nicht auf! Das ist die Botschaft, die ich um die Welt trage, vor allem zu jenen, die benachteiligt sind.
Der Artikel erschien erstmals in der Printausgabe des SONNTAG vom 22. September 2019
Autor:Gerlinde Petric-Wallner aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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