Psychiater Raphael Bonelli über die Corona-Krise
"Die ideale Zeit, um sich zu bekehren"

Jetzt plötzlich sind die Kinder wieder zu Hause und die Eltern mehr oder weniger zu ihrem Glück gezwungen, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen und diese zu betreuen.  | Foto: Pixabay
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Wie uns die Krise zum Wesentlichen zurückführt, wo die Kirche jetzt erfinderischer werden muss und warum Singles jetzt besonders leiden: Psychiater Raphael Bonelli im Interview.

Wenn die Ehefrau in den Wehen liegt, kann man der ständig wiederholten Aufforderung „Bleib zu Hause!“ nicht folgen. Auch als Arzt und Psychiater nicht, wenn Patienten in einer schweren Krise sind. „Ich bin mitten drinnen in der Corona-Krise, aber es geht mir prinzipiell gut. Ich habe ein paar Interviews abgesagt, habe mir aber gedacht für den SONNTAG machen wir das jetzt“, sagt der Wiener Psychiater und Neurowissenschaftler Raphael Bonelli im Interview mit dem SONNTAG.

Im Hause Bonelli ist soeben ein Baby zur Welt gekommen und auch sonst geht es „rund“: mit der Absage einer psychiatrischen Großveranstaltung und zahlreichen Patienten, denen die Corona-Krise zu schaffen macht. Wie sieht der Psychiater und Buchautor die aktuelle Krise im Hinblick auf Gesellschaft und Kirche? Der SONNTAG fragte nach und bekam durchaus überraschende Antworten.

„Ich glaube, dass die Corona-Krise sehr viel mit Angst zu tun hat, einerseits mit Angst um die eigene Gesundheit, andererseits mit der Angst vor zu strengen Maßnahmen, die eine wirtschaftliche Katastrophe zur Folge haben. Beide Ängste nehme ich wahr und merke, dass es langsam kippt – von der Gesundheits-Angst hin zur Katastrophen-Angst. Angst aber ist immer ein schlechter Ratgeber“, analysiert Rapahel Bonelli den derzeitigen Umgang mit der Coroana-Krise. Die Religion müsse hier Antworten geben, fordert der Psychiater.

Wie uns die Krise weiterbringt
Die derzeitige Lage sei sowohl für die Gesellschaft als auch für die Kirche dramatisch, genau das gelte es aber zu nützen: „Dramatik ist immer gut, um neu darüber nachzudenken: Was macht mich aus, was ist mir wichtig, was ist wesentlich in meinem Leben?

Ich merke das bei all meinen Patienten, dass sie jetzt neu darüber nachdenken dürfen und können, was in ihrem Leben wirklich zählt. Leider ist es auch bei vielen Gläubigen so, dass sie in einem Hamsterrad der Betriebsamkeit stecken, wo sie einfach den ,heidnischen Göttern‘ – Arbeit, Leistung und Wertschätzung von außen – so viel Stellenwert geben, dass der wahre Gott total ins Hintertreffen kommt“, stellt Bonelli fest.
Das gelte nicht nur allgemein für Gläubige, sondern auch für kirchliche Angestellte, ja sogar für Priester.

„Diese Osterzeit kann eine neue Chance sein, dass wir als Kirche neu reflektieren, was macht uns aus, was ist das Wesentliche und was ist nur Beiwerk. Wie können wir zurückkommen zu den Sakramenten, zur Begegnung mit Jesus Christus? Wie können wir wesentlicher werden, um uns nicht mehr in einer Betriebsamkeit zu verlieren, in der viele nur der Anerkennung von außen nachhetzen?“, regt der Buchautor mit Fragen zum Nachdenken an.

Die Familie rückt zusammen
„Ich freue mich, dass in dieser Krise die Familie wieder zusammen ist. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine Dynamik herausgebildet, dass die Häuser leer standen, die Eltern arbeiten und die Kinder in Fremdbetreuung sind. Ich nenne das Phänomen empty home (leeres Zuhause)“, erklärt der Arzt und Vater von vier Söhnen.

Jetzt plötzlich seien die Kinder wieder zu Hause und die Eltern mehr oder weniger zu ihrem Glück gezwungen, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen und diese zu betreuen. „Das finde ich eine tolle Möglichkeit, hier wieder neu wesentlich zu werden. Wesentlich ist die Familie, denn in der Familie erfahren die Kinder durch die Begegnung mit Vater und Mutter, wie Gott ist oder in welche Richtung Gott geht. Also dieses Behüten, das Wohlwollen und die Liebe ohne Leistung, wenn das den Eltern gelingt“, fasst Raphael Bonelli zusammen. „Wir haben eine biologisch gesehen viel zu niedrige Reproduktionsrate in Österreich, aber die Kinder, die da sind, sind auch schlecht betreut von ihren eigenen Eltern, weil die Eltern oft nur die Anerkennung von außen im Kopf haben, nach dem Motto: Ich muss jetzt erfolgreich sein und dann müssen halt die Kinder daran glauben.“

Singles leiden besonders
„Die Familien sind jetzt sehr herausgefordert, aber ganz dramatisch ist jetzt die Situation der vielen Singles. Diese sind am meisten in der Krise, beobachte ich. Sie können ihren bisherigen Aktivitäten nicht mehr nachgehen und es fällt ihnen die Decke auf den Kopf“, sagt der Psychiater.

Menschen digital erreichen
Was kann da die Kirche jetzt tun, wie kann sie den Menschen jetzt beistehen? „Aus meiner Sicht als Psychiater kann ich nur sagen: Die Kirche ist dann am nützlichsten, wenn sie die Lehre Christi unverkrampft, aber auch unverfälscht verkündigt, ohne Einschränkungen und nicht politisch korrekt. Das bringt auch den Einsamen was, weil sie sich dann beschäftigen. Junge Menschen sind in den digitalen Medien erfahren. Da könnte man noch viel mehr eine Botschaft senden, die Nachhall hat“, rät Bonelli.

Raphael Bonelli hat vor einem Jahr mit Freunden einen Youtube-Kanal eröffnet. „Wir haben bereits 70.000 Abonnenten und wir haben in der Corona-Krise ein paar Videos rausgebracht, die schon über eine Million Mal geklickt worden sind. Da haben wir die religiöse Dimension natürlich drinnen, aber sehr niederschwellig. Das wird extrem positiv aufgenommen“, erzählt der Psychiater.

Die Kirche dürfe den Menschen in dieser schweren Zeit die Sakramente Eucharistie, Beichte und Krankensalbung nicht verweigern. „In der Pestzeit haben die Pestkranken eigene Kirchen bekommen, die Pestkirchen, und haben die Kommunion mit langen Zangen bekommen. Da kann die Kirche noch erfinderischer werden, wie sie ihre Schätze austeilt“, erklärt der Arzt: „Dass jetzt Menschen sterben müssen ohne die Krankensalbung und ohne die Beichte, das ist nicht nur traurig, sondern ein Armutszeugnis.“ Die Beichte könne z. B. mit Hilfe einer Plexiglaswand, wie sie jetzt auch Supermarktangestellte schützen, erfolgen.

„Es ist die ideale Zeit, um sich zu bekehren, um beichten zu gehen, um alles neu aufzusetzen, aber da braucht es seelsorgliche Gespräche, sakramentale Beichte, das ist jetzt notwendig aus meiner Sicht.“

Autor:

Agathe Lauber-Gansterer aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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