Bischof Erwin Kräutler
„Armut fällt nicht vom Himmel“
Seit über fünf Jahrzehnten setzt sich Erwin Kräutler für die Menschen in Amazonien, insbesondere für die indigene Bevölkerung, ein. Als Bischof von Xingu hat er die Entwicklung der Kirche in Lateinamerika entscheidend mitgestaltet.
Seit 50 Jahren leben Sie nun am Xingu: Was hat sich für die indigenen Völker und ihre Mitwelt geändert?
Erwin Kräutler: In der verfassungsgebenden Versammlung von 1987 haben wir zusammen mit den Indios die Indianerrechte in die Verfassung gebracht. Sie haben nun Recht auf ihre angestammten Gebiete, auf ihre kulturellen Ausdrucksformen, auf ihre Sprache. Das war bis 1988 alles nicht der Fall. Heute kämpfen wir darum, dass die Indianerrechte in der Verfassung bleiben. Negativ an der ganzen Geschichte ist natürlich die Aggression gegen ihre Mitwelt, speziell in Amazonien, aber auch in anderen Regionen Brasiliens. Rücksichtslos hat man den Regenwald abgeholzt, und es geht einfach so weiter. Dadurch ist ihr natürliches Habitat sehr gefährdet.
Wie sieht die aktuelle Situation beim Kraftwerksprojekt Belo Monte aus?
Von Belo Monte ist mehr als die Hälfte bereits gebaut. Für die nun wiedergewählte Präsidentin Dilma Rousseff ist es das Projekt, das sie einfach durchziehen will. Da geht sie rücksichtslos wie eine Straßenwalze über uns hinweg. Das hat natürlich auch Folgen für die indigenen Völker. Ich bin heute der Überzeugung, wenn sie physisch überleben, kulturell sicher nicht. Sie werden an irgendeinem Stadtrand oder in einem Außenbezirk landen. Bislang waren sie gewohnt, zu jagen, zu fischen, eine kleine Landwirtschaft zu betreiben. Das ist alles dann nicht mehr möglich. Da ist die Gefahr sehr groß, dass sie dem Alkohol verfallen, weil sie keine Lebensperspektive mehr haben.
Wie haben Sie Ihren Dienst und Auftrag zunächst als Missionar und später als Bischof gesehen?
Das Wort Missionar ist in Europa sehr belastet. Ich möchte schon ganz klarstellen, dass Mission für mich bedeutet, was im Zweiten Vatikanischen Konzil gesagt worden ist: „Die Kirche hat den Auftrag und die Sendung, die Liebe Gottes allen Menschen zu verkünden und mitzuteilen.“ Es geht nicht darum, dass wir den Indios irgendetwas aufdrängen oder überstülpen, sondern dass sie leben und überleben können. Dazu sind wir da. Toten können wir das Evangelium nicht verkünden.
Papst Franziskus wünscht sich eine „arme Kirche für die Armen“. Die lateinamerikanischen Ortskirchen leben seit Jahrzehnten die Option für die Armen. Wie sieht das konkret aus?
Man kann nicht immer sagen, die lateinamerikanische Kirche hat das bereits durchgeführt. Es ist auch für uns ein Prozess. Es gibt noch immer viele Reminiszenzen der Vergangenheit. In verschiedenen Diözesen hat man früher Paläste gebaut. Ich bin vollkommen dagegen, dass sich der Bischof abhebt und in einer Entfernung vom Volk ist wie die Stratosphäre von der Erdoberfläche. Wie Papst Franziskus gesagt hat, er muss den Geruch der Schafe annehmen. Den bekommt er nur, wenn er unterm Volk ist.
Unter der „armen Kirche“ verstehe ich auch, dass man sich mit der armen Bevölkerung solidarisch zeigt. Wir müssen zurück zu den Wurzeln, zum Evangelium. Wie hat Jesus gelebt? Man muss man sich immer neu vergegenwärtigen, dass ich diesen Auftrag, diese Sendung habe: mit dem Volk unterwegs zu sein, für das Volk da zu sein.
Welche Bedeutung haben die Basisgemeinden in Ihrer Diözese?
Wir können uns unser Bistum gar nicht vorstellen ohne die Basisgemeinden. Das sind 777, dafür stehen 27 Priester zur Verfügung. Eine Pfarre ist für uns eine Summe von 30 bis 80 kleinen Gemeinden, immer im Umkreis von mehreren hundert Kilometern. Der Priester sitzt nicht mehr im Pfarrhaus und wartet, bis die Schäfchen zu ihm kommen. Er ist dauernd unterwegs, geht zu und lebt in den Gemeinden. Die Gemeinden muss man in verschiedenen Dimensionen verstehen: die samaritanische Dimension der gegenseitigen Hilfe oder die prophetische Dimension, die fragt: Warum sind die Menschen arm? Jemand trägt Verantwortung dafür. Armut fällt nicht vom Himmel, sondern wird gemacht. Dann ist das Familiäre in der Basisgemeinde ganz wichtig. Jeder kennt jeden. Man darf aber die kontemplative Dimension nicht vergessen, sie ist wesentlich für unsere kleinen Gemeinden. Wir sind nicht nur da, um sozial tätig zu sein, sondern es gibt diesen ganz bewussten Hinblick, das Leben aus der Schrift. Das Gebet gehört einfach dazu. Viele Menschen sind vom Rosenkranz begeistert. Das Gebet wird nicht irgendwie angehängt, sondern die Basisgemeinden leben nicht ohne das. Der sonntägliche Gottesdienst ist ihnen sehr wichtig, es ist leider meist nur ein Wortgottesdienst. In 90 Prozent unserer Gemeinden gibt es keine reguläre Eucharistiefeier, 70 Prozent der Gemeinden haben vielleicht drei- bis maximal viermal im Jahr Eucharistiefeier.
Sie haben es gerade angesprochen: Ein Großteil der Menschen ist von der sonntäglichen Eucharistie ausgeschlossen. Welche Lösung könnte es geben? Im Gespräch sind oft die „bewährten verheirateten Männer“.
Das Wort „viri probati“ verwende ich nicht gern. Es geht eigentlich um viel mehr. Ich bin eher auf der Seite des emeritierten Bischofs in Südafrika, Fritz Lobinger: Er spricht davon, dass die priesterlose Gemeinde das Recht haben soll, Älteste zu wählen, die für diese Gemeinde und nicht für die anderen verantwortlich sind. Dazu bekommen sie auch die Weihe für ihre eigene Gemeinde. Am Montag aber sind sie wieder in ihrem Beruf tätig, und sie haben ihre Familie. Das wäre für mich die ideale Lösung. Die ist nämlich urchristlich. Für uns ist es eine Riesenverantwortung für die heutige Kirche, dass man die Weichen stellt. Papst Franziskus ist offen für konkrete Vorschläge, das hat er mir selber gesagt. Er wird es nicht von oben her regeln, von den Bischofskonferenzen sollen Vorschläge kommen. Da müssen wir Mut haben. Der Papst hat Mut, wir Bischöfe hier und da nicht.
Warum wurde die Befreiungstheologie in Europa missverstanden?
Die Befreiungstheologie hat man immer als verkappten Marxismus gekennzeichnet und das stimmt einfach nicht. Ich habe dies nie so erlebt, Befreiungstheologie ist grundbiblisch. Es gibt ganz fundamentale Aussagen in der Bibel. Im Exodusbericht, Kapitel 3 sagt Gott: "Ich habe gesehen, ich habe gesehen das Leid meines Volkes, ich habe seinen Schrei gehört, ich kenne sein Leid. Darum bin ich herabgestiegen, um es aus der Knechtschaft zu befreien." Das ist der Ausgangspunkt: Gott ist nicht ein Gott in weiter Ferne, wie es in Schillers "Ode an die Freude" heißt: "Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen." Wir glauben, dass Gott ein "Gott mit uns" ist. Im Schlusswort des Matthäusevangeliums heißt es: "Seht, ich bin mit euch, alle Tage bis ans Ende der Welt." Gott ist mit uns auf dem Weg durch die Zeit, aber auch ein Gott, der befreit aus aller Not, aus allem persönlichen Elend und aus der strukturellen Sünde.
Wie sieht es mit der Inkulturation in Lateinamerika aus? Sie wollen keine Evangelisierung von oben, sondern sprechen von einer Option für die kulturell Anderen.
Papst Johannes Paul II. hat, wie er Anfang der 1980er Jahre in Indien war, schon gesagt: "Gott ist gegenwärtig in der Kultur Indiens." Wir haben gedacht und es ist immer so herausgekommen: Wir gehen dorthin und bringen den lieben Gott zu den Leuten. Aber der liebe Gott war schon längst da. Jedes Volk bis in den hintersten Winkel des Planeten hat irgendeinen Bezug zur Transzendenz. Diesen gilt es in Erfahrung zu bringen. Niemand ist "tabula rasa". Das gibt es nicht. Evangelisierung bedeutet für mich nicht die Evangelisierung der Kulturen. Inkulturation heißt, mit viel Liebe und viel Einfühlungsvermögen auf die Menschen in ihrer jeweiligen Kultur zuzugehen. Wir müssen aufzuhören zu glauben: Wir sind Herrscher über alle Kulturen, unsere Kultur ist die Topkultur. Die Kultur eines jeden Volkes muss respektiert werden.
Jede Religion bietet Stoff für neue Impulse. Da können wir sagen: Na gut, wir bringen diesen Impuls im Namen Jesu mit seiner Botschaft. Das ist nicht nur eine verbale Verkündigung, sondern für mich gibt es immer weitere Dimensionen: zunächst einmal Zeugnis ablegen. Ich denke einfach an die Kleinen Schwestern Jesu, die mitten in einem Indio-Volk leben. Sie machen keine wortwörtliche Verkündigung, aber sie leben einfach dort. Der Dienst an einem Volk gehört auch dazu und der Dialog mit diesen Völkern ist unbedingt notwendig. Man spricht mit den großen Weltreligionen Islam, Judentum, Buddhismus, aber warum kann man nicht in Dialog mit diesen Naturvölkern treten? Denn auch diese haben ihren Gottesbegriff.
Woraus schöpfen Sie Kraft und Hoffnung? Bibel, Gebet, Musik?
Alles zusammen. Jeder braucht seine kontemplative Dimension, sonst hält er das nicht durch. Das gehört jeden Tag dazu. Ich zelebriere die Heilige Messe jeden Tag. Diese Basis möchte ich nicht missen. Ich kann nicht anderen das verkünden, wovon ich selber nicht überzeugt bin. Die Verkündigung ist die Weitergabe einer persönlichen Überzeugung. Woher holt man die Überzeugung? Jeder Christ weiß, dass die Quelle seines Einsatzes aus der Eucharistie, aus dem täglichen Gebet und der Kontemplation kommt.
Wie geht es Ihnen mit dem ständigen Polizeischutz, wie schränkt das Ihre Arbeit ein? Haben Sie Angst?
Man kann nicht immer mit der Angst leben, dann ist man gelähmt. Man braucht mehr Vertrauen als Angst. Je mehr man Vertrauen hat, desto eher hält man die Angst in Grenzen. Ich stehe seit acht Jahren unter Polizeischutz: Natürlich ist man im Kommen und Gehen eingeschränkt. Ich kann nicht mehr tun, was ich will. Früher bin ich in der Stadt herumgelaufen, ich habe jetzt immer zwei Polizisten dabei. Die äußere Freiheit hat man mir genommen, aber die innere kann mir niemand nehmen.
In der Schulzeit wurden Sie als Träumer bezeichnet, wovon träumt Dom Erwin heute?
Mein Heimatpfarrer hat zu mir in der dritten oder vierten Klasse Volksschule gesagt, ich sei ein Träumer. Klar träume ich davon, dass Frieden, Freude, Liebe möglich wird – gerade in unserem Umfeld. Die Utopie der Geschwisterlichkeit, die Utopie der Solidarität, das ist ganz von Evangelium her bestimmt. Dom Hélder Câmara hat gesagt: "Wenn einer träumt, ist es nur ein Traum, aber wenn mehrere träumen, beginnt eine neue Wirklichkeit." Der Traum gehört einfach zum Leben. Man muss Visionen haben. Als Christen ist unser Traum der Traum Jesu, diesen wollen wir verwirklichen.
Autor:Markus Albert Langer aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.