Die Sage um den Stephansdom
Der tiefe Fall nach dem Höhenrausch
Dem Stephansdom fehlt ein Turm. Beim Bau der Kathedrale waren zwei Türme geplant. Der zweite wurde nie fertig gebaut. Das Zeitgeschehen hat es nie zugelassen. Die Grundsteinlegung erfolgte 1450, aber erst 17 Jahre später, am 2. Juni 1467, legte man den ersten Stein auf das Fundament. Eine Spurensuche über große Pläne und ihr Scheitern.
Es ist Punkt zwölf Uhr. Reinhard Gruber erreicht die Spitze des Nordturmes des Stephansdomes auf über 60 Metern Höhe. Der Domarchivar wird ruhig, hält einen Moment inne, er lauscht den zahlreichen Glocken der Kirchen der Wiener Innenstadt, die zum Mittagsgebet läuten. Er blickt in die Weite über die Dächer der Stadt, hebt seinen Kopf zum weltberühmten Südturm der Kathedrale und beginnt zu erzählen: „Der Südturm ist mit 137 Metern für die damalige Zeit sehr hoch geworden. Doch der Nordturm, auf dem wir stehen, hätte nochmals um 20 Meter höher werden sollen.“ Diese Pläne konnten nie verwirklicht werden. Der Turm fiel deutlich kleiner aus.
Statt Turmspitze die Pummerin
Aus seiner Manteltasche holt Reinhard Gruber die Schlüssel zur Welschen Haube, jenem Glockenstuhl, der den Nordturm abschließt. Er öffnet die Tür, die Pummerin kommt in all ihrer Pracht und Majestät zum Vorschein. „Hier ist sie, die Pummerin, die Stimme Österreichs. Dass die Pummerin, eine der größten Glocken weltweit, hier hängt, ist der Ausgleich dafür, dass der Nordturm so stümperhaft und unvollkommen geblieben ist“, erklärt Gruber. Dieser Ausgleich wurde allerdings erst beim Wiederaufbau des Stephansdomes nach den Wirren des Zweiten Weltkrieges geschaffen. Beim Brand der Kathedrale im April 1945 stürzte die alte Pummerin vom Südturm herab und zerbrach. Die neu gegossene Pummerin erhielt als Symbol des Wiederaufbaus im Nordturm ihren Platz.
Reinhard Gruber steigt wieder den Turm hinab und stellt sich auf den Stephansplatz zu den Fiakern. Sein Blick wandert langsam nach oben: Kunstvoll und elegant wie sein großer Bruder im Süden wächst der Nordturm vom Boden aus in die Höhe, zahlreiche gotische Fialtürmchen und Heiligenfiguren zieren seine Fassade. Doch abrupt und unerwartet endet der Turm, als hätte man ihn mit einem Messer einfach abgetrennt. Keine Spitze, wie man sie von Kirchtürmen kennt. Nur ein Glockenstuhl sorgt dafür, dass der Turm irgendwie abgeschlossen ist. „Stümperhaft“, wie Gruber sagt.
Gefährlicher Pakt mit dem Teufel
Der Pakt des Hans Puchsbaum mit dem Teufel – so heißt die Sage über den halbfertigen Turm, die viele Wiener Schulkinder lernen: Der Dombaumeister Peter Prachatitz hatte eine Tochter namens Maria, in die sein Gehilfe Hans Puchsbaum unsterblich verliebt war. Der Meister versprach Puchsbaum, ihm Maria zur Frau zu geben, wenn er es schaffe, den zweiten Turm des Stephansdomes innerhalb eines Jahres fertig zu bauen. Der Gehilfe ging auf die Vereinbarung ein. Er träumte von Maria, von Ruhm und Ehre, die ihm mit dem Turmbau zuteilwerden würden – wollte er doch der nächste Dombaumeister werden. Doch bald verzweifelte Puchsbaum an diesem unmöglich umzusetzenden Projekt.
„Und hier kommt der Teufel ins Spiel“, unterbricht Gruber die Sage. „Immer, wenn sich die Wiener früher ein Phänomen nicht erklären konnten, musste der Teufel dafür herhalten. So wie beim nie fertig gebauten Nordturm“, stellt er fest.
Wie die Sage erzählt, ist der Leibhaftige erschienen. Und er ging mit Puchsbaum folgenden Pakt ein: Er werde ihm helfen, den Turm innerhalb eines Jahres zu bauen. Der Teufel stellte aber die Bedingung, dass der Dombaugehilfe während dieser Zeit weder den Namen Gottes noch eines Heiligen aussprechen dürfe. Puchsbaum willigte ein und siehe da: Der Turmbau ging zügig voran. Eines Morgens stand der Gehilfe am Gerüst, erblickte am Stephansplatz seine geliebte Maria und rief vor lauter Verliebtheit ihren Namen aus: „Maria!“ Damit brach er die Abmachung mit dem Teufel. Dieser erschien sogleich und ließ den jungen Gehilfen vom Gerüst in den sicheren Tod fallen. Seitdem, so die Sage, wird nicht mehr am Nordturm weitergebaut.
Übermut tut selten gut
„Für die Historizität dieser Sage gibt es keine Belege“, beendet Reinhard Gruber seine Erzählung. Tatsächlich wurde der Turmbau wegen der nahenden Türkengefahr und der Reformation eingestellt. „Der Sinn einer Sage ist die Interpretation“, bemerkt Gruber: „Was sagt uns diese Geschichte für unser Leben heute?“ Der Domarchivar hält nachdenklich inne und setzt fort: „Puchsbaum drehte eine Linke, denn er wollte mit dem Nordturm hoch hinaus. Das wurde ihm zum Verhängnis. Er stürzte im wahrsten Sinne des Wortes tief hinab. Der Höhenrausch des Puchsbaum war überheblich, das konnte ihm nur zum Verhängnis werden“, resümiert er und verweist als Theologe auf die biblische Erzählung vom Turmbau zu Babel.
Sinnbild für das Leben
Was Reinhard Gruber am Nordturm fasziniert? „Die Unvollkommenheit des Turmes ist ein Sinnbild für das Leben. Jeder hat Ideale. Je älter ich werde, desto mehr erkenne ich, dass ich nicht alles erreichen kann, was ich mir in meinem Leben vorgenommen habe.“ Mit Blick auf die Welsche Haube, die wie eine Mütze den Nordturm abschließt, fügt er hinzu: „Auch wenn ich nicht alles erreichen kann, versuche ich doch, dass meine Vorhaben einen guten Abschluss finden. So wie es die Baumeister mit der Welschen Haube als Abschluss des Turmes versuchten.“
In diesem Moment tönt es vom Südturm mächtig die erste Stunde nach Mittag. Reinhard Gruber hört dem Klang der Glocke zu, hält inne und verabschiedet sich: „So hat die Glocke unserem Rundgang einen guten Abschluss geschenkt.“
Autor:Der SONNTAG Redaktion aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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