Der Brückenbauer
Über den Umgang mit „wenig selbstbewussten“ Menschen

Foto: David Kassl

Frage von Christine H.:
„Stelle dich selbstbewusst in die Mitte oder an die Spitze und du wirst geachtet werden. Der oder die Bescheidene wird bewusst oder unbewusst übersehen und geht unter; auch in der Kirche, wo es eigentlich nicht so sein sollte.“

Ja, das beschriebene Phänomen kenne ich leider: Manche Menschen werden leicht übersehen, gerade wenn sie wenig Selbstbewusstsein haben, auch in katholischen Pfarren ...

Ich möchte mit einer Unterscheidung beginnen: Das Gegenteil von Selbst­bewusstsein ist aus meiner Sicht nicht Bescheidenheit. Das sieht man z. B. an Papst Franziskus und auch an seinem Namenspatron, dem heiligen Franziskus: Beide Männer sind sehr bescheiden und zugleich selbstbewusst.

Dennoch bleibt die Frage bestehen:
Wie kann es sein, dass in der Kirche Menschen mit einem weniger ausgeprägten Selbstbewusstsein übersehen werden? „Bei euch soll es nicht so sein“, höre ich förmlich Jesu Kommentar und damit seinen Hinweis auf nichts Geringeres als Sünde. Wie sollte es in der Kirche stattdessen zugehen? Wie immer sind sowohl der Einzelne als auch die Gemeinschaft gefragt. Ein paar Hinweise dazu:

▶ Selbstbewusstsein wächst vor allem durch die Erfahrung angenommen zu sein. Das ist ein Auftrag an das Umfeld.
▶ Eine christliche Gemeinde soll sich durch Menschen mit weniger Selbst­bewusstsein in ihrer Nächstenliebe herausgefordert fühlen. So wäre es besonders wichtig, den betreffenden Brüdern und Schwestern achtsam zu begegnen und sie nicht zu „übersehen“, denn Christus sieht sie ja auch mit Liebe an. Es ist günstig, ihnen Aufgaben in der Gemeinde zu übertragen, die sie nicht überfordern, aber zeigen, dass sie ernst genommen sind.
▶ Im Idealfall gibt es (z. B. im Pfarr­gemeinderat) beauftragte Personen mit Aufmerksamkeit auf das Thema.
▶ Gleichzeitig kann das Selbstbewusstsein des Einzelnen durch den Glauben wachsen: Christlich begründetes Selbstbewusstsein besteht im Bewusstsein, von Gott über alle Maßen geliebt und gewollt zu sein. Für Christ/innen mit schwach ausgeprägtem Selbstbewusstsein bedeutet das einen Aufruf, ein Defizit zu erkennen und sich damit psychologisch und spirituell auseinanderzusetzen.
▶ Andererseits soll auch die Tugend der Bescheidenheit in der Gemeinde wachsen, die es umgekehrt leichter macht, andere zu integrieren.

Abschließend lässt sich feststellen: Die Art und Weise, wie eine Gemeinde mit Mitgliedern umgeht, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht leicht auf andere Menschen zugehen, ist ein Gradmesser für ihre spirituelle Reife.

Weihbischof Stephan Turnovszky

Haben Sie ein Anliegen? Schreiben Sie an brueckenbauer@dersonntag.at

Autor:

Sonntag Redaktion aus Kärnten | Sonntag

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