Zeit für den Hirtenhund
Die ver-rückende fünfte Jahreszeit

Foto: David Kassl

Für einen Hund bin ich viel rumgekommen. In Europa und in Übersee. Dabei habe ich in dieser unseligen Zwischenzeit, die sich nicht mehr nach Winter, aber auch noch nicht nach Frühling anfühlt, die interessantesten Erfahrungen mit dem Fasching gemacht. Und ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass nichts so tief in die Seele eines Volkes blicken lässt wie sein Umgang mit dem Fasching.

Denn er hat mit Leben und Sterben, mit der Umwertung der Dinge und dem Traum von einem anderen Leben zu tun. Fasching, das ist geerdete Religion.

Spinnt der Köter jetzt völlig?, werden Sie fragen. Hat er einen Tequila-Shot zu viel erwischt? Nein, ich habe mich nur immer gefragt, was die Menschen in dieser „fünften Jahreszeit" veranlasst, sich derart kostümatorisch und alkoholisch zu verausgaben, dass sie anschließend den Rest der Woche krank sind. Und das gilt in Rio ebenso wie in Köln oder in Schwarzindien. Kennen Sie nicht? Liegt bei Salzburg.

Tatsächlich ist die närrische Zeit fest im christlichen Brauchtum des Mittelalters verwurzelt. „Vaschanc“ stand für den letzten Alkohol-Ausschank vor der Fastenzeit. Karneval hingegen leitet sich vom lateinischen „carne vale“ her, was „Fleisch, lebe wohl“ bedeutet. Religiös interessant wird der Fasching jedoch, wenn man ihn in Verbindung zu den mittelalterlichen „Narrenfesten“ sieht.

Dabei übernahmen „kleine“ Kleriker Rang und Privilegien der Bischöfe, ein Kinderbischof und ein Papst wurden bestimmt, während die Menge in Prozessionen mitzog. „Wir sind Kirche“ auf mittelalterlich sozusagen.

Das Ziel dieser Umkehr der regulären Ordnung war es, in einem klar begrenzten Zeitfenster dem einfachen Volk einen Raum der Selbstbestimmung zu geben und Unmut damit gezielt zu kanalisieren, um zugleich die bestehenden Verhältnisse zu zementieren. Zeitlich begrenzte und erlaubte Revolten wachsen sich schließlich selten zur Revolution aus. Damit hat der Fasching letztlich eine utopische, ja, eine eschatologische Spitze: Er ist die Erinnerung daran, dass die Ordnung der Welt auch ganz anders sein könnte.

Höchst aktuell gerade nach zwei Jahren Pandemie. Wenn Sie daher in den nächsten Tagen den Kopf schütteln sollten angesichts unerträglich platter Faschingssendungen oder grölender Horden auf öffentlichen Plätzen oder in der U-Bahn, so drücken Sie ein Auge zu und denken Sie sich: „Schön, dass die Jugend so viel Wert auf christliche Traditionen legt.“

Autor:

Der SONNTAG Redaktion aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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