Ende der Corona-Schockstarre
„Wir haben etwas zu sagen!"
Für die Pastoraltheologin Regina Polak muss sich die Kirche nach der Corona-Schockstarre im Frühjahr jetzt wieder aktiver in die vielen Debatten einmischen. Polak spricht am 24. September bei den „Theologischen Kursen“ in Wien.
Die anhaltende Corona-Krise zwingt auch unsere Kirche zur kritischen Selbstreflexion. Vereinfacht und verkürzt gesagt: Was muss im Leben der Kirche beibehalten werden, was kann man getrost weglassen?
„Aus der Heiligen Schrift habe ich gelernt, dass insbesondere Situationen – Leid, Krankheit, gesellschaftliche Verwerfungen – eine besondere Möglichkeit des Lernens des Glaubens sind“, sagt die Wiener Pastoraltheologin Regina Polak im Gespräch mit dem SONNTAG: „Da ist mir immer wieder folgende Dynamik aufgefallen: Sich dem Leiden und den Fragen stellen, sie annehmen und durchleiden und nicht ausweichen. Und dann die Tradition befragen und sie im Licht der Gegenwart re-interpretieren: Was kann mir der biblische bezeugte Glaube heute zu verstehen geben, um die Bedeutung und Aufgabe der aktuellen Situation in ihrer Tiefe zu erschließen?
- Wie kommt es, dass eine weitreichende Sprachlosigkeit angesichts der Corona-Pandemie auch die Kirche erfasst hat?
REGINA POLAK: Meine Wahrnehmung der Sprachlosigkeit bezieht sich auf den öffentlichen Raum. Viele Menschen haben mich gefragt, warum man von „der Kirche“ so wenig hört. Ich denke, da haben kirchliche Gruppen, Gemeinschaft und die Kirchenleitung zu Beginn so reagiert wie die Gesellschaft: Wir waren alle zunächst überfordert, in einer Art Schockstarre, und mussten zuerst einmal die internen Herausforderungen klären, vor allem die Frage nach den Gottesdiensten und dem Gemeindeleben.
Auch die caritativen Organisationen hatten wenig Zeit für öffentliche Statements, das sie mit konkreter Nächstenhilfe mehr als ausgelastet waren. Abgesehen davon war ist man mit gesellschaftspolitischen Prognosen wohl auch deshalb vorsichtig, weil man ja ehrlicherweise zu Beginn noch nicht wirklich abschätzen konnte, was die Zukunft bringt.
Wir könnten und sollten uns aber zukünftig aktiver in die vielen Debatten einmischen, die international und national bereits laufen. Wir haben etwas zu sagen!
- Wie wirkt sich Corona auf das Innenleben der Kirche aus?
Meiner Wahrnehmung nach finden jene Priester, Gemeinden und Organisationen, die schon vor Corona aktiv, engagiert und kreativ waren, auch in der Corona-Zeit gute Wege, mit der Situation umzugehen. Umgekehrt: Wo es vor Corona bereits Probleme oder Schwächen gab, werden diese durch Corona schärfer sichtbar.
Was mir positiv aufgefallen ist: Viele Gemeinden haben neue Gottesdienstformate entwickelt, in einzelnen Diözesen haben intensive Selbstreflexionen begonnen, wie die Zukunft der Kirche aussehen kann, die Caritas ist noch mehr im Einsatz als zuvor, auch die theologischen Debatten haben in einzelnen Formaten (z.B. feinschwarz) extrem zugenommen. Corona hatte also vielerorts eine belebende Wirkung. Es gab und gibt aber auch Personen, Orte, Gemeinden, die vor Angst gelähmt sind, Priester, die nicht mehr verfügbar sind, es gibt Klagen, dass die Seelsorge viel zu kurz kommt, manche Theologen haben sich völlig zurückgezogen. Auch die virtuellen Gottesdienste führen zu kontroversen Debatten.
- Welche gesellschaftlichen Aufgaben stellen sich der Kirche?
Die nationale und globale ökonomische Krise, auf die wir uns einstellen müssen, bringt zahlreiche Verwerfungen mit sich: die Zahl der Armen und Armutsbedrohten wird zunehmen, ebenso familiäre und Beziehungsprobleme, psychische Krisen, spirituelle Nöte und Gewalt. Die soziale Kohäsion kommt unter Druck, weil es eine weit verbreitete, diffuse Angst gibt, die entsolidarisiert. Die Frage, wie die Schuldenlasten verteilt werden, wird zu heftigen politischen Auseinandersetzungen führen.
Social Distancing bedroht auch den öffentlichen Raum und die Demokratie, weil sich die Menschen zurückziehen. Hinzukommt die durch Corona rasant beschleunigte Digitalisierung, die unsere Arbeitswelten verändern wird. Nicht zuletzt ist ja auch die ökologische Krise nicht vorbei. Überall dort müssen wir uns einbringen: die Armen und Leidenden unterstützen und begleiten, Solidarität stärken, soziale Kohäsion fördern, gute Ideen einbringen und vor allem die Hoffnungskräfte stärken.
Wir müssen als weltweite Kirche immer wieder an die Menschen außerhalb Österreichs und Europas erinnern, die von den Folgen von Corona betroffen sind. Auch die benötigen unsere Solidarität und Wort und Tat.
- Welche theologischen Fragen verbinden sich mit der Corona-Krise?
Wie kann man in einer Gesellschaft, die Angst vor der Zukunft und dem Verlust von Wohlstand und Sicherheit hat, die Perspektive weiten und Hoffnung geben – und welche Rolle kann der Glaube dabei spielen?
Wir müssen die Transzendenzspannweite der Menschen weiten, Sinnpotentiale erschließen, Möglichkeiten zeigen, wie man auch in schwierigeren Zeiten gut leben und vielleicht sogar Neues lernen kann. Wir können an all die Verheißungen erinnern, die die Heilige Schrift bezeugt: Dass das Leiden nicht das letzte Wort hat, dass wir gerade jetzt auf Gottes Beistand hoffen dürfen und zeigen, wie solche Hoffnung praktisch wird – durch Solidarität, vor allem mit jenen, die es besonders hart erwischt hat.
Wir können fragen, welche Aufgabe wir als österreichische Kirche jetzt im Horizont einer Menschheit haben, die durch Corona entdeckt hat, wie untrennbar wir alle miteinander verbunden sind. Vor allem sollten wir es wagen, nach Gott zu fragen und seinen Willen für die die kommende Zeit zu erforschen.
- Warum ist die Frage nach Gott während dieser Pandemie nicht ins Zentrum der Pastoral gerückt?
Vielleicht war das schon vorher der Fall. Wir sind in Europa und Österreich vorsichtig geworden, mit dem ausdrücklichen Verweis auf Gott geschichtliche Ereignisse oder gar das Leid von Menschen zu erklären. Und das ist zunächst gut so, weil man nach den historischen Erfahrungen Europas tatsächlich nicht mehr naiv über Gott sprechen kann. Viele Menschen „sprechen“ über Gott, indem sie ihn „tun“, d.h. sich sozial engagieren. Aber die Frage, wie wir heute auch ganz ausdrücklich über Gott sprechen, gehört in einer säkularen Gesellschaft zu den zentralen Aufgaben. Wir brauchen dazu eine Art „zweiter Naivität“ (Paul Ricoeur), eine Weise, über Gott zu sprechen und ihn zu bezeugen, in der erkennbar wird, mit wie vielen Fragen, Nöten und Zweifeln die wichtigste Frage im Leben verbunden ist. Wir brauchen Übersetzungen in die Sprache der Menschen.
- Wagen die Christen es überhaupt noch, heutzutage von Gott zu reden?
Ja, ich denke, dass Gott in Gemeinden und Gemeinschaften auch ausdrücklich ein wichtiges Thema ist. Meiner Erfahrung nach ist das Bedürfnis nach „Theologie“, hier im Sinne von Nachdenken über Gott und Neues zu lernen, sehr groß. Das Geheimnis Gottes ist ja so groß und unerschöpflich, dass man über ihn viel nachdenken kann – auch wenn er sich dadurch nie zur Gänze erfassen lässt. Schwierig wird es im öffentlichen Raum: Da schämen sich viele Menschen, weil sie belächelt werden oder als vormodern betrachtet werden. Die Lösung ist hier kein naiv-trotziges „Trotzdem“-Bekenntnis, da würden wir nur in einen Machtkampf um Weltanschauungen eintreten. Besser wäre es, argumentierend, fragend Menschen in die Fragen und Nachdenk-Bewegungen hinein zu holen, die einen selbst als lernenden Gläubigen betreffen. Dazu bedarf es freilich der Bildung.
- Welche Chancen boten sich den Gläubigen in der Corona-Pandemie hinsichtlich Spiritualität und Kommunikation?
Ich habe viele Menschen getroffen, die in dieser Krise ganz neue Seiten des Glaubens erfahren haben: Plötzlich sahen sie die Liturgie in neuem Licht und verstanden die Bedeutung von Ritualen und Leiblichkeit, plötzlich begann man, vermehrt in der Bibel zu lesen, entwickelte neue Rituale für das persönliche Gebet oder das Gebet in der Familie und im Freundeskreis. Die Fülle der gestreamten Gottesdienste und anderer religiöser Angebote im Netz gab Einblick in andere, neue Möglichkeiten, den Glauben zu leben, zu feiern, zu bedenken.
Autor:Stefan Kronthaler aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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