Spiritueller Missbrauch
Wenn man weiß, was Gott „will“
Über spirituellen Missbrauch wird kaum geredet. Denn das Thema ist komplex, und dazu noch (zu) wenig erforscht.
Gegenüber dem SONNTAG erläutert Doris Reisinger die vielen Dimensionen des geistlichen Missbrauchs.
Durch ein Gespräch mit unserem Kardinal Christoph Schönborn im Bayerischen Rundfunk im Februar 2019 ist das Leiden von Doris Reisinger vielen bewusstgeworden.
Reisinger war acht Jahre lang Mitglied einer ordensähnlichen Gemeinschaft, dort erlebte sie Briefzensur, Lese- und Redeverbot bis hin zu sexuellem Missbrauch. Doris Reisinger fragte in dieser Sendung unseren Kardinal, ob er sagen könne, was sie noch von keinem kirchlichen Verantwortungsträger, auch nicht in der eigenen Gemeinschaft gehört habe – dass er ihr glaube.
Kardinal Schönborn antwortete: „Ich glaube Ihnen, ja.“ Im „Danke!“ von Doris Reisinger sahen viele Zuseherinnen und Zuseher den wohl berührendsten Moment dieser TV-Sendung.
Doris Reisinger spricht am 12. Mai bei der Online-Veranstaltung der „Theologischen Kurse“ zum Thema „Spiritueller Missbrauch“.
- Geistlicher oder spiritueller Missbrauch basiert auf der Verwechslung von geistlichen Personen mit der Stimme Gottes. Was heißt das konkret?
DORIS REISINGER: Geistlicher Missbrauch liegt immer dann vor, wenn jemand angeblich besser weiß, was Gott von einer anderen Person will, als sie das selbst weiß und sie unter Druck setzt, diesen Willen zu befolgen. Konkret in etwa so: Du spürst keine Berufung zum Priestertum? Ich weiß aber genau, dass du berufen bist! Ihr glaubt nicht, dass ihr es schafft, euch um ein viertes Kind zu kümmern? Ich spüre aber, dass Gott euch die Kraft dazu geben wird!
Manchmal geschieht es etwas subtiler und manipulativer. Dann heißt es beispielsweise: „Wenn du ehrlich wärst und nicht so egoistisch an dich selbst denken würdest, dann würdest du deine Berufung auch spüren.“
Menschen nehmen für sich in Anspruch, Gottes Willen genau zu kennen und ihn im Leben anderer durchzusetzen. Das steht aber niemandem zu.
- In Ihrem Buch „Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche“ nennen Sie drei Formen von geistlichem Missbrauch.
Worum handelt es sich dabei?
Die ganz offensichtlichen Übergriffe nenne ich „spiritualisierte Gewalt“. Was da im Namen Gottes mit Menschen gemacht oder von ihnen verlangt wird, ist massiv: Beziehung aufgeben, Medikamente absetzen, körperliche Übergriffe zulassen. Solche Übergriffe stehen oft erst am Ende einer langen missbräuchlichen geistlichen Beziehung.
Am Anfang steht meist spirituelle Vernachlässigung. Das heißt: Eine Person ist spirituell schlecht ausgestattet und lebt in dem Gefühl, alles wäre irgendwie leer und sinnlos.
Dann ist sie anfällig für die zweite Form von geistlichem Missbrauch: Manipulation. Ein manipulativer Täter schafft es leicht, sie für sich und sein „Angebot“ zu begeistern. Sie hat das Gefühl, auf einmal macht alles Sinn und ist sehr glücklich. Sie merkt gar nicht, wie sie Stück für Stück von dem neuen geistlichen Führer abhängig wird, der ihr Leben in seinem Sinne umgestaltet, bis zu dem Punkt, an dem sie dann auch spiritualisierte Gewalt über sich ergehen lässt.
- Wie kann spirituellem Missbrauch vorgebeugt werden?
Die beste Vorbeugung ist es, wenn Menschen ihr geistliches Leben selbst in der Hand haben. Manche Menschen suchen vor allem Stille, Trost und Sicherheit. Andere suchen vor allem Gemeinschaft und soziales Engagement. Bei manchen Menschen spielt ein bestimmter kultureller Hintergrund eine wichtige Rolle: Tiroler Herz-Jesu-Verehrung, slowenisches Liedgut oder polnische, italienische oder afrikanische Traditionen. Alles das hat in unserer Kirche Tradition und Platz und soll frei lebbar sein. Das alleine genügt aber nicht.
Es braucht auch einen verbindlichen kirchenrechtlichen Rahmen, der verhindert, dass geistliche Macht straflos missbraucht werden kann.
- Worauf ist zu achten, damit diese Macht in rechter Weise gebraucht und nicht missbraucht wird?
Ich glaube, es wäre schon viel gewonnen, wenn nur drei Punkte rechtlich konsequent erweitert und durchgesetzt werden.
▶ Die konsequente Trennung von äußerer Leitung und Seelsorge.
Sie verhindert, dass Menschen sich jemandem geistlich anvertrauen müssen, der auch in anderen Bereichen Macht über sie hat. In Priesterseminaren gilt das schon. Aber in anderen Bereichen liegt äußere Leitung und Seelsorge weiter in ein und derselben Hand: Beispielsweise beim Pfarrer oder beim Bischof. Das sollte sich im Sinne einer Rollenklarheit und Vorbeugung von geistlicher Abhängigkeit und Missbrauch ändern.
▶ Niemand sollte einen Seelsorger vor die Nase gesetzt bekommen, den man nicht selbst ausgesucht hat.
Es gibt jetzt schon den kirchenrechtlichen Grundsatz der freien Wahl des Beichtvaters und der geistliche Begleitung. Der sollte aber generell für Seelsorge gelten. Einzelpersonen, Pfarreien, Verbände und Bistümer sollten mitentscheiden dürfen, wer bei ihnen Seelsorge übernimmt und ausübt.
▶ Wo es geistlichen Missbrauch gegeben hat, muss dieser aufgeklärt und sanktioniert werden.
Es kann nicht sein, dass Menschen, die andere missbrauchen, keinerlei Sanktionen erfahren, wenn sie angezeigt werden.
- Gibt es Orte in der Kirche, wo von Missbrauch Betroffene reden können?
Für mein Empfinden gibt es aktuell noch kaum Orte in der Kirche, an die sich Menschen, die geistlichen Missbrauch erlebt haben, wenden können und wo sie verstanden werden. In Deutschland ist hier aktuell das Bistum Osnabrück Vorreiter. Von dort haben mir Betroffene positive Erfahrungen berichtet.
An anderen Orten dagegen erleben Betroffene, dass sie weggeschickt werden. Die Missbrauchsbeauftragte sagt beispielsweise: Für geistlichen Missbrauch bin ich nicht zuständig. Der Bischof behauptet, er können nichts machen, weil die Gruppe, in der es geschehen ist, päpstlichen Rechts ist und auf ein Schreiben nach Rom bekommt man keine Antwort. Dazu kommt, dass es im Moment noch sehr wenig Wissen und Verständnis für geistlichen Missbrauch gibt. Betroffene bekommen zu hören, das wären alles nur Missverständnisse und sie hätten sich doch wehren können oder sollten jetzt nach vorne schauen.
Dass es sich um Gewalt handelt, die oftmals auch mit Normverstößen einhergeht und für Betroffene oft lebenslange Folgen hat, haben viele noch nicht verstanden.
- Inwiefern ist auch das Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau in unserer Kirche eine Wurzel des Missbrauchs?
Jeder Missbrauch ist im Kern ein Sich-über-den-anderen-Hinwegsetzen: Was du denkst, fühlst und willst, zählt hier nicht. Frauen erleben das in der katholischen Kirche schon in der lehramtlichen Vorstellung davon, was Frausein bedeutet. Da dreht sich alles um Mutterschaft und Verfügbarkeit. Frauen, die in der Kirche führen, forschen, lehren, predigen, Sakramente spenden oder regieren wollen, kommen dagegen praktisch nicht vor. Was sie empfinden und wollen, zählt nicht. Aber auch Frauen, die in dieser Kirche unter Männern leiden, kommen nicht vor.
Ich glaube, je gerechter Macht in der Kirche verteilt ist, zwischen Männern und Frauen, Alten und Jungen, Klerikern und Laien, Menschen verschiedener Herkünfte und Hautfarben, desto weniger wird Macht missbraucht werden.
Aktuell liegt die Macht in der Kirche praktisch ausschließlich in der Hand einiger weniger weißer männlicher Kleriker über 60, die vom Rest der Kirche nicht gewählt oder kontrolliert werden. Da ist Machtmissbrauch praktisch vorprogrammiert.
Autor:Stefan Kronthaler aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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