Jüdisches Leben in Wien
„Einfach die Torah leben“

Modern: Der Schrein mit den Torah-Rollen der Jüdischen Liberalen Gemeinde „Or Chadasch“ in Wien. | Foto: Andrej Grilc
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  • Modern: Der Schrein mit den Torah-Rollen der Jüdischen Liberalen Gemeinde „Or Chadasch“ in Wien.
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Auserwählung, Erwählung sind sperrige und nicht ganz einfache Begriffe. Was sich dahinter verbirgt und was das mit dem Lernen und vor allem mit dem Leben der Torah zu tun hat, erläutert Gemeinderabbiner Lior Bar-Ami im SONNTAG-Interview. Er spricht am 30. November bei den „Theologischen Kursen“ in Wien.

Ich mache einen Bund zwischen mir und dir ... – Zur Frage der Erwählung Israels“: so lautet der Titel des Vortrags von Gemeinderabbiner Lior Bar-Ami (Or Chadasch) am 30. November bei den „Theologischen Kursen“ in Wien. Für das Judentum ist „Auserwählung“ von zentraler Bedeutung. Wie ist die Erwählung Israels zu verstehen und was folgt daraus? Diese Fragen beantwortet Lior Bar-Ami im Gespräch mit dem SONNTAG. Die Torah („Weisung, Anweisung“) zu leben, das sei das Ziel des Judentums. Torah steht für sämtliche zu allen Zeiten gültigen und verbindlichen Weisungen Gottes, die alle Lebensbereiche betreffen. Die Torah ist keine Last, sondern Gegenstand großer Liebe. Die wichtigste und schönste Aufgabe im Leben eines Juden ist das Lernen der Torah. Höchste Autorität und Ansehen als Torah genießen die „fünf Bücher Mose“. Über die Zugehörigkeit anderer Gebote und späterer Interpretationen zur Torah wurde schon früh und wird bis heute innerjüdisch diskutiert.

Was dürfen wir uns unter „Auserwählung“ vorstellen?
LIOR BAR-AMI: Das Auserwählt-Sein im jüdischen Verständnis bedeutet, dass wir auserwählt sind für die Torah, und durch die Torah in einem Bund mit Gott stehen. Das heißt, man ist nicht auserwählt aus seinem eigenen Willen und erlangt dadurch auch nicht eine besondere Stellung. Sondern man hat die Aufgabe, die Torah anzunehmen und gemäß der Torah zu leben und die Torah einzuhalten. Man ist also auserwählt zu einer Verpflichtung hin.

Ist Auserwählung letztlich gleichsam ein einseitig göttlicher Akt?
Nein. Die Auserwählung ist eine Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Ohne das Empfangen oder das Annehmen der Torah könnte es keine Erwählung des Volkes Israel geben.

Hat Auserwählung somit mit einer göttlichen Aussonderung Israels von allen anderen Völkern zu tun?
Ja, zum Zweck der Einhaltung der Torah. Wenn wir das Ganze theologisch betrachten, in jüdischer Literatur und Liturgie, dann ist es immer so: Gott hat uns auserwählt, damit wir die Torah empfangen. Gott, du hast uns auserwählt aus allen Völkern und uns die Torah gegeben, damit wir die Torah leben. Es ist keine herausgehobene Stellung. Wie es heißt: nicht, weil ihr das größte der Völker seid, sondern weil ihr das kleinste und geringste unter den Völkern seid.

„Gott will, dass das Volk zurückkehrt und umkehrt zur Einhaltung der Torah.“ Lior Bar-Ami

Das heißt, sehr vereinfacht gesagt, Auserwählung ist einerseits eine Sache der Freude, die das Volk gerne annimmt, zum anderen aber auch eine gewisse Belastung, die Torah in allem zu befolgen?
Ich weiß nicht, ob das Volk dies immer so freudig angenommen hat. In der Torah steht geschrieben: „Und das Volk lagerte am Berg Sinai.“ Auf Hebräisch heißt es: „Unter dem Berg“. Und der Midrasch, eine erklärende Geschichte, sagt, dass Gott den Berg Sinai erhoben und gesagt hat: Nehmt meine Torah an oder ihr werdet unter dem Berg Sinai begraben werden. Ich weiß also nicht, ob das immer so mit Freude zu tun hat, wenn man sich den Midrasch anschaut, sondern es kann auch eine Bedrohung und natürlich vor allem eine Aufgabe sein.

Entsprach Israel in seiner Geschichte immer dieser Auserwählung?

Nein, sonst hätte es keine Prophetinnen und Propheten gegeben, die das Volk immer wieder dazu ermahnen, den Bund mit Gott einzuhalten und Gottes Gebote zu befolgen. Was meines Erachtens die wichtige Rolle der Prophetinnen und Propheten gewesen ist. Es zeigt aber auch, wie Israel im Laufe der Zeit gewachsen und erwachsen geworden ist in dieser Bundes-Beziehung.

Wie sanktioniert Gott den Umstand, dass das Volk dieser Auserwählung manches Mal nicht entsprach? Gott „droht“ bisweilen ...
Genau. Gott droht gelegentlich dem Volk, aber ich glaube nicht um des Bedrohens willen. Gott will, dass das Volk zurückkehrt, umkehrt. Beim jüdischen Neujahrsfest und vor allem bei Jom Kippur geht es sehr stark um diese Umkehr. Damit das Volk zurückkehrt zu Gott und zur Einhaltung der Torah.

Kann Gott diese Auserwählung überhaupt verwerfen?
Nein. Gott hat einen Bund geschlossen, einen festen Bund mit dem Volk Israel, und Israel ist dazu erwählt. Es ist ein beidseitiger Vertrag, den sie eingegangen sind. Deshalb denke ich, dass Gott nicht einseitig diesen Bund wieder lösen könnte oder lösen kann. Gott sagt aber auch ganz bewusst, dass er sich nicht mehr einmischen wird. Wir sprechen in unserer Tradition vom Verbergen des Gesichts oder des Antlitzes Gottes. Gott sagt: Ich verberge mein Antlitz vor ihnen und ich werde schauen, was aus ihnen wird. Das ist für mich der Moment des Erwachsenwerdens des Volkes Israel. Das Volk Israel hat jetzt die Aufgabe, die Torah zu leben und zu interpretieren.

Wie entspricht das Judentum der Gegenwart dieser Auserwählung heute? Wie sieht das konkret aus?
Ich denke, das Judentum der Gegenwart, besonders wenn es sich auf die soziale Gerechtigkeit beruft, entspricht dem Bund und der Auserwählung. Wissend, dass wir auserwählt worden sind, um die Torah zu halten, innerhalb des Volkes Israel. Und da haben wir unterschiedliche Interpretationen. Aber wir sind vor allem auch auserwählt worden, um ein Licht unter den Völkern zu sein. Und um eine bessere Welt zu schaffen. Wir nennen das die Reparatur, die Wiederherstellung der perfekten Welt.

„Wir sind auserwählt, um ein Licht unter den Völkern zu sein ...“ Lior Bar-Ami


In welchem Zusammenhang stehen also Auserwählung und Bund?

Die beiden gehören untrennbar zusammen. Gott geht verschiedene Bündnisse ein mit verschiedenen Menschen. Gott schließt einen ersten Bund mit den ersten Menschen. Und dann schließt Gott einen Bund mit Noah. Und dann einen Bund mit Abraham und seinen Nachkommen. Und später entwickelt sich daraus der Bund Israels. Jeder dieser Bünde bedeutet auch eine Auserwählung zu einer gewissen Sache. Auserwählung und Bund kann man nicht voneinander trennen, sondern die beiden gehören zusammen nach jüdischem Verständnis.

Sie haben jetzt oft davon gesprochen, dass es um das Halten der Torah geht. Wie kann man die Torah heutzutage halten, hier in Wien?
Es gibt natürlich verschiedene Auslegungsarten, die Torah zu halten. Oder die Torah zu leben, das ist für mich der wichtigere und entscheidende Punkt. Da haben die unterschiedlichen Bewegungen des Judentums unterschiedliche Herangehensweisen. Als liberale jüdische Gemeinde nehmen wir in unsere Interpretation der Torah und auch in unsere Interpretation der Halacha, des jüdischen Gesetzes, das 21. Jahrhundert und seine Erkenntnisse mit hinein. So interpretieren wir die Torah in einem modernen Verständnis. Wenn wir die Torah, die ewig ist, heute nicht gemäß unserem Jahrhundert interpretieren, dann wäre sie irgendwann nicht mehr lebbar.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen? Was heißt „gemäß unserem Jahrhundert interpretieren“?

Vereinfacht gesagt ist eines der Merkmale für das liberale Judentum, dass Männer und Frauen bei uns die gleichen Verpflichtungen haben und nicht voneinander getrennt sitzen. Sie haben die gleichen Rechte und Verpflichtungen. Wenn wir weiterhin eine Trennung haben würden und Frauen nicht Rabbinerinnen werden könnten, dann würden wir ein Leben in der Synagoge führen, wo Männer und Frauen nicht gleich sind. Sobald wir die Tür der Synagoge verlassen, sind wir in einer noch nicht vollkommen egalitären Welt, aber zumindest in einer egalitäreren Welt als in der Synagoge. Und da sagen wir als liberale Gemeinde: Das kann nicht sein, sondern da muss sich auch unser Verständnis des Judentums und der Halacha, des jüdischen Gesetzes, verändern. Der Talmud sagt: Die Frau gehört zu den Sieben, die aufgerufen werden zur Torah-Lesung. Aber aus Ehre der Gemeinde gegenüber wird sie nicht aufgerufen. Heute würden wir es so verstehen, dass es ein nicht ehrenhaftes Verhalten wäre, wenn man die Frau nicht zur Torah-Lesung aufruft. Im 21. Jahrhundert sind Frauen gleichberechtigt.

Das heißt, Frauen werden in Ihrer Gemeinde zur Torah-Lesung aufgerufen?
Frauen werden bei uns aufgerufen. Zwei meiner Vorgängerinnen waren Rabbinerinnen. Wir haben heuer bei vier Feiern der religiösen Mündigkeit drei B’not Mitzwa gefeiert, wo die drei Mädchen jeweils aufgerufen worden sind, aus der Torah zu lesen. Frauen können bei uns Gottesdienste leiten, sie können aus der Torah lesen. Wie alle anderen Menschen auch bei uns.

Zum Programm der Theologischen Kurse: theologischekurse.at
Informationen: orchadasch.at

Modern: Der Schrein mit den Torah-Rollen der Jüdischen Liberalen Gemeinde „Or Chadasch“ in Wien. | Foto: Andrej Grilc
Mag. Lior Bar-Ami ist Gemeinderabbiner von Or Chadasch in Wien. | Foto: Andrej Grilc
Autor:

Stefan Kronthaler aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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