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Rerum novarum – die "Mutter" aller Sozial-Enzykliken
Vor 130 Jahren veröffentlichte Papst Leo XIII. die erste Sozialenzyklika unserer Kirche.
Im SONNTAG-Interview erläutert der Wiener Sozialethiker Alexander Filipovic die bleibende Bedeutung dieses päpstlichen Rundschreibens und der Katholischen Soziallehre.
Schon die Anfangsworte der Enzyklika sind wie ein Programmhinweis und eine Lesehilfe: "Rerum novarum" – "Der Geist der Neuerung".
Gemeint war damit die "Arbeiter-Frage". Was die bleibende Bedeutung dieser am 15. Mai 1891 erschienenen Enzyklika ist, will der SONNTAG von Univ.-Prof. Alexander Filipovic wissen. Er lehrt seit wenigen Monaten Christliche Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
- Heuer sind es 130 Jahre her, dass die erste so genannte Sozialenzyklika „Rerum novarum“ erschienen ist. Was ist die bleibende Bedeutung dieser 1891 erschienenen Enzyklika?
Zentral und bleibend bedeutsam ist Rerum novarum als Startpunkt einer intensiven kirchlichen Beschäftigung mit brisanten Fragen der Zeit. Auch im frühen Christentum, im Mittelalter und dann in der Neuzeit gab es auf allen Ebenen der Gemeinschaft der Gläubigen tätige Fürsorgearbeit, Armenhilfe, Überlegungen zur gerechten politischen Ordnung ausgehend vom christlichen Gottesglauben, Einsatz gegen Ungerechtigkeit und vieles mehr.
Mit Rerum novarum gibt Leo XIII. dem sozialen Denken, Lehren und Handeln der Kirche eine explizite Gestalt, wertet es auf. Seit diesem Text ist es selbstverständlich, dass sich Päpste, Synoden und Bischofskonferenzen zu sozialen Fragen differenziert äußern.
- Was hat sie uns heute noch zu sagen? Sind ihre Inhalte überholt oder noch zu verwirklichen?
Wie alle Sozialenzykliken ist auch Rerum novarum im Kontext ihrer Zeit zu analysieren. Rerum novarum reagiert auf die Soziale Frage des 19. Jahrhunderts, die wegen der Industrialisierung mit der Verelendung der Arbeiter besonders in den Städten schlimmste Folgen hatte.
Auch die politischen, kulturellen und sittlichen Folgen der im 19. Jahrhundert stattfindenden „Verwandlung der Welt“ (Jürgen Osterhammel) sind Teil dieser Sozialen Frage. Rerum novarum betont das Recht der Arbeiter auf Privateigentum und auf die Bildung von Vereinigungen und befürwortet ausdrücklich Eingriffe des Staates zugunsten der Schwachen und Armen.
Wenn man so will, finden sich in RN damit erste vorsichtige Spuren der Anerkennung sozialer Menschenrechte durch die Kirche. Insofern auch heute noch, gerade in globaler Hinsicht, die Frage nach sozialer Gerechtigkeit, nach der Situation der Ärmsten und auch nach angemessenen Arbeitsbedingungen bei uns und weltweit alles andere als gelöst sind, bleiben die Inhalte und die Stoßrichtung von RN in dieser Hinsicht aktuell.
Aber natürlich verändert sich auch die Soziale Frage im Laufe der Zeit, darauf reagieren dann ja auch die Folgeenzykliken zu sozialen Fragen bis zuletzt Fratelli tutti.
- Schlug 1891 gleichsam die Geburtsstunde der Katholischen Soziallehre?
Ja, das kann man so sagen. Wichtig ist aber, dass die Soziallehre durch das kirchliche Lehramt nur eine Ausprägung dessen ist, was man als das soziale Lehren, Denken und Handeln der Kirche beschreiben kann. Denn neben die Katholische Soziallehre durch das Lehramt treten die Erfahrungen und Äußerungen der Basis (kirchliche Gemeinden, Initiativen, Verbände) und die „Christliche Sozialethik“ als wissenschaftlich-theologisch Disziplin.
Diese drei Akteure arbeiten natürlich zusammen, stellen eine plurale Einheit dar, unterscheiden sich aber in Vorgehen und Inhalten. Und zudem gibt es vielfach ökumenische Initiativen in diesem Bereich, vor allem zusammen mit evangelischen und orthodoxen Kirchen. Das soziale Lehren, Denken und Handeln der Kirche ist also vielgestaltig, übrigens auch schon zur Zeit von Rerum Novarum.
Auch vor Rerum Novarum hat es also bereits in vielen Ländern, auch im Lehramt Auseinandersetzungen mit der Situation der Arbeiter gegeben, etwa im verbandlichen und politischen Sozialkatholizismus in den deutschsprachigen Ländern oder etwa durch den Mainzer Arbeiterbischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
- Wie würden Sie in wenigen Sätzen die „Katholische Soziallehre“ und ihre Prinzipien erklären?
Die Katholische Sozialehre in der eben beschriebenen Vielgestaltigkeit hat die Absicht, ein auf den christlichen Glauben gestütztes, aber in pluralen Gesellschaften allgemein kommunikationsfähiges soziales Ethos zu entwickeln und zur Durchsetzung zu verhelfen.
Das soziale Ethos kann beschrieben werden als eine Reihe von moralischen Überzeugungen, wie die Gesellschaft und ihre politische Ordnung aussehen soll. Sie ist damit, wie die Sozialenzyklika Mater et Magistra (1961, 222) formuliert, „ein integrierender Bestandteil der christlichen Lehre vom Menschen“ und übrigens auch ein unverzichtbarer Bestandteil der Theologie.
Nach innen in die Kirche hinein möchte sie dem sozialen Engagement der Menschen Orientierung und Anregung geben, nach außen in die Gesellschaft hinein hat sie die Absicht, die Ideen von Gerechtigkeit, Menschenwürde und Menschenrechte einzubringen.
Kennzeichen der christlichen Soziallehre ist, dass sie nicht auf individuelle Tugenden und moralische Handlungen ausgerichtet ist, sondern auf soziale Strukturen (z.B. Institutionen, Organisationen, Gesetze, Ordnungen). Sie stellt also die Frage nach der Gerechtigkeit sozialer Strukturen.
Sie begreift den Menschen als Person (Personprinzip), bringt staatliche Hilfeverpflichtungen und staatliche Zurückhaltung in einen Ausgleich (Subsidiaritätsprinzip) und sieht gemeinschaftliche Zusammenarbeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt als zentral an (Solidaritätsprinzip). Nachhaltigkeit und Schutz der Erde sind inzwischen weitere Elemente der Sozialprinzipien.
- Warum ist die soziale Frage seit „Rerum novarum“ eine Kern-Aufgabe der Kirche?
Mit Rerum Novarum beginnend setzt sich die Überzeugung durch, dass sich die Kirche ausgehend von der biblischen Offenbarung nicht neutral gegenüber gesellschaftlichen und politischen Fragen verhalten kann.
Glaube und Weltverantwortung bilden eine Einheit. Kirche ist Kirche in der Welt, Gläubige und alle anderen Menschen sind Arbeiter, Bürger, politische Subjekte, leben in Familien, haben Angst vor der Zukunft, müssen sich an Gesetze halten, sind Konsumenten, Kinobesucher und Konzertgänger.
„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi“, also der Kirche – so lauten ja die Anfangssätze von Gaudium et spes, der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils.
Wenn wir in der Nachfolge von Jesus Christus "Salz der Erde" sein sollen und wollen, müssen wir Christgläubigen zusammen mit allen Menschen uns für umfassende Gerechtigkeit einsetzen.
- Wenn nicht Wettbewerb und Gewinnstreben das Wirtschaften und Arbeiten bestimmen sollen, sondern Miteinander und solidarisches Existenzsicherungsstreben, welche Antworten bietet dazu die Katholische Soziallehre?
Die Sozialehre nimmt von RN an keine grundsätzliche und fundamentale Opposition gegenüber einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung ein. Eher fällt gerade mit RN die Entscheidung für eine realistische Linie der Sozialehre. Das bedeutet, dass man zwar keine Abschaffung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung fordert, aber für eine sozialpolitische Abfederung der negativen Auswirkungen dieser Wirtschaftsweise argumentiert. Die soziale Marktwirtschaft, wie sie in vielen Ländern vor allem in Europa bevorzugt wird, wurde auch stark von dieser Perspektive beeinflusst.
Von ihrem Eintreten für Gerechtigkeit und mit ihrer Option für die Schwächsten der Gesellschaft her betont die Soziallehre aber eine klare Gemeinwohlperspektive von Grund auf: Hoffnungen darauf, dass sich Wohlstandseffekte eines unregulierten Kapitalismus nach unten hin zu den Armen verteilen, sind, das zeigen auch empirische Daten, völlig unrealistisch und auch zynisch.
Dagegen muss nach Meinung der christlichen Soziallehre alles politische und wirtschaftliche Handeln daran gemessen werden, inwiefern es den Schwächsten und den Ausgegrenzten hilft.
- Hat die Katholische Soziallehre Antworten auf die gegenwärtigen großen Herausforderungen wie Pandemie, Klimawandel, Migration, Arbeitslosigkeit, Digitalisierung, ungerechte Verteilung von Boden, Ressourcen und Kapital? Kann sie einen Beitrag leisten, welchen?
Seit der sozialen Frage im 19. Jahrhundert ist die Dynamik der gesellschaftlichen Veränderungen samt ihrer Probleme rasant gestiegen. Die von Ihnen genannten Herausforderungen sind immens. Ich sehe neben der Umweltfrage und dem Klimawandel vor allem die Technisierung und Digitalisierung der Gesellschaft als neue soziale Frage an.
Die Zuordnung von Individuum und Gesellschaft, die Stellung der menschlichen Person, die Beteiligungsmöglichkeiten in Arbeit, Gesellschaft und Politik, die Spaltung von Armen und Reichen, gut Gebildeten und weniger gut Gebildeten, das steht alles im Kontext der digitalen Technisierung – das alles macht eine gerechtigkeitsorientierte Antwort der Kirchen notwendig.
Angesichts dieser neuen sozialen Fragen im beginnenden 21. Jahrhundert nimmt auch nochmal die Bedeutung der christlichen Sozialethik zu.
- Ein viel strapazierter Begriff ist „Nachhaltigkeit“: Ist in Zeiten der Krise Platz für diesen Aspekt?
Ja, selbstverständlich. Der Begriff der Nachhaltigkeit, so breit wie er heute benutzt wird, steht für verantwortungsvolles, vorausschauendes Handeln, das negative Auswirkungen des Handelns zu vermeiden sucht, die Lebensbedingungen aller Menschen verbessert, den Eigenwert der Umwelt respektiert und die Ansprüche auch zukünftiger Generationen, also unserer Kinder und Enkel, berücksichtigt.
Kurzsichtiges Handeln können wir uns angesichts unserer Probleme überhaupt nicht mehr leisten. Die Politik muss sich genau daran messen lassen.
- Vom Prinzip „Subsidiarität“ wird tagespolitisch gerne gesprochen, wenn es darum geht, dass sich größere Einheiten nicht in kleinere einmischen sollen. Was ist aber in Wahrheit mit Subsidiarität gemeint?
Das Subsidiaritätsprinzip in der Tradition der christlichen Sozialethik ist sozusagen offen für Vereinnahmungen von zwei Seiten. Einmal geht es ja um das Kompetenzanmaßungsverbot, das übergriffigem Handeln, z.B. des Staates, einen Riegel vorschieben möchte. Diese Seite des Prinzips schützt also die Autonomie von Individuen und kleinen sozialen Gemeinschaften und Organisationen. Darauf beziehen sich gerne wirtschaftsliberale Politikerinnen und Politiker und Unternehmer.
Auf der anderen Seite fordert das Subsidiaritätsprinzip auch die Hilfestellung dann ein, wenn sich kleinere Einheiten nicht selbst helfen können, fordert also beispielsweise einen engagierten, steuernden und unterstützenden Staat. Das wird gerne von etwa sozialdemokratischen und christlich-sozialen Politikern vertreten. In Wahrheit geht es dem Subsidiaritätsprinzip um einen Ausgleich dieser beiden Elemente. Man wird zu einer gerechten Gesellschaftsordnung nur kommen, wenn man beides berücksichtigt.
- Warum ist die Enzyklika „Laudato si“, wie Papst Franziskus sagt, eher eine Sozial- als eine „Umweltenzyklika“?
Für Papst Franziskus stellt der Einsatz für den Schutz der Erde und das Leben ganz klar als eine Gerechtigkeitsfrage dar. Daher geht Laudato si‘ ohne Frage als Sozialenzyklika durch.
Das Schreiben betont, dass Umwelt- und Sozialengagement nicht getrennt behandelt werden dürfen. Für Franziskus umfasst daher die Option für die Armen eine Option für die Schöpfung; das gilt dann auch anders herum. Die wunderbare, grundlegende Idee einer universalen Schöpfungsfamilie strahlt also sowohl sozial- als auch umweltpolitisch aus. Gerechte Verhältnisse lokal und weltweit werden wir zukünftig nur mit einer ökologischen Perspektive erreichen, die hilft, den Klimawandel zu stoppen und rückgängig zu machen.
- Warum scheiden sich bei der Frage nach der Gerechtigkeit oftmals die Geister?
Gerechtigkeit hat sehr viele Facetten. Die Forderung nach Gerechtigkeit steht für die Frage nach einer dem Menschen angemessenen politischen Ordnung.
Hier gibt es viele unterschiedliche Perspektiven, auch weil grundlegende Verständnisse des Menschen unterschiedlich sind. Diese Unterschiedlichkeit in den Gerechtigkeitsverständnissen muss nicht schlimm sein. Im politischen Streit um die Gerechtigkeitsmaßstäbe, so hoffen wir, ergibt sich ja in der Rückbindung an Bürgerinnen und Bürger eine immer bessere Gesellschaft.
Die christliche Soziallehre speist in diesen Diskurs die Perspektive ein, dass es zuerst um die Schwächsten gehen muss, dass jeder Mensch mit Würde und mit Rechten ausgestattet ist, egal wo er herkommt und lebt, dass aber auch jede Person frei ist und Verantwortung für sein Leben trägt und Lebensleistungen respektiert werden müssen.
Fertige Antworten hat auch die Christliche Sozialethik selten. Es geht ihr immer um die konkrete Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse für ein menschenwürdiges Leben aller.
Autor:Stefan Kronthaler aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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