Zeitgeistforschung: Die Kirche nach Corona
Mit neuen Allianzen aus der Krise herauskommen

Das große Versprechen, für das sich alle angestrengt haben, geriet von einem auf den anderen Tag kollektiv in Gefahr“, sagt Fratz. | Foto: iStock-golero
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  • Das große Versprechen, für das sich alle angestrengt haben, geriet von einem auf den anderen Tag kollektiv in Gefahr“, sagt Fratz.
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Wie uns die Pandemie verändert und worauf wir als kirchliche Menschen achten können, schildert Zeitgeistforscherin Kirstine Fratz im Gespräch mit dem SONNTAG.

Kirstine Fratz ist deutsche Zeitgeist­forscherin und Kulturwissenschaftlerin. Sie berät Unternehmen darin, wie sie im Produkt- und Marketing-Bereich den Nerv der Zeit treffen und lehrt das Thema Zeitgeist-Forschung an verschiedenen Hochschulen. „Zeitgeist ist die mächtigste und kreativste Intelligenz in unserer Kultur“, ist sie überzeugt.

Die Corona-Pandemie hat nach Ansicht von Kirstine Fratz vieles zum Bröckeln gebracht, was früher als unverrückbar galt, etwa dass Arbeit und Familienleben getrennt sein müssten. „Die Tendenz zur Familie hat stark zugenommen. Jeder, der viel zoomt, weiß, dass da jetzt auch die Kinder im Bild hinten rumspringen. Kinder und Arbeit sind nicht mehr so klar voneinander zu trennen, wie wir das immer erwartet haben. Kinder sind hier im wahrsten Sinne des Wortes ins Blickfeld gerückt“, erläutert die Zeitgeist-Forscherin.

Schon der erste Lockdown sei eine Zwangsverordnung zum Innehalten gewesen. Bisherige fest verankerte Vorstellungen von einem „gelungenen Leben“ gerieten ins Wanken. „Ich habe beobachtet, dass sich bei Menschen, die beruflich viel geleistet haben, plötzlich eine große Müdigkeit breit gemacht hat.

Das große Versprechen, für das sich alle angestrengt haben, geriet von einem auf den anderen Tag kollektiv in Gefahr“, sagt Fratz. „Abgesehen von den Schicksalen, die dadurch ausgelöst wurden, frage ich mich von der Forscherseite, ob unsere Grundannahmen für ein gelingendes Leben dadurch längerfristig verändert werden und wie wir uns danach organisieren.

Werden wir andere Konzepte von Sicherheit, andere Konzepte von Konsum, von Schule und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf entwickeln? All das ist im Moment zur Disposition gestellt, nicht laut schreiend, aber in der individuellen Wahrnehmung des einzelnen“, erläutert die Forscherin.

Verbinden statt Trennen
Als Zeitgeist-Forscherin hat Kirstine Fratz erfahren, dass im Zeitgeist oft wieder Dinge miteinander verbunden werden, von denen man angenommen hat, dass sie voneinander getrennt gehören – wie jetzt gerade im Bereich Beruf und Familie.

Ein anderes klassisches Beispiel für das Wiederzusammen­kommen von Getrenntem sei der Sog der säkularisierten Gesellschaft hin zur Sp­iritualität. „Man sieht da eine große Sehnsucht, nach Geist-Erfahrung, um dem eigenen Geist zu begegnen, die eigenen Fähigkeiten offenbart zu bekommen und damit wächst auch eine zunehmende Bereitschaft, sich von Geist leiten zu lassen, in der persönlichen Freiheit.

Die säkularisierten Menschen streben auf jeden Fall wieder nach spirituellen Erfahrungen, machen diese aber außerkirchlich bei Yoga, Meditation etc“, führt Kirstine Fratz aus.

Eine Trennung von der Kirche habe stattgefunden, wo Menschen Kirche als etwas Trennendes erfahren hätten, etwa bei wiederverheirateten Geschiedenen oder Menschen verschiedener sexueller Ausrichtung. „Hier stand die Kirche für zu viel Trennung und zu wenig für Verbindung. Das ist dann irgendwann einmal für Menschen kein Versprechen mehr, dort die Erfahrung von Ganzheit zu machen. Das ist für mich einer der Grundkonflikte, die die Kirche hat“, meint Kirstine Fratz.

Was können wir als Kirche jetzt tun? „Schauen, was sich gerade in der Gesellschaft wieder versucht zu verbinden im Sinne von Glaube, Hoffnung und Liebe und uns als Mitschöpfer in diesem Prozess verstehen“, empfiehlt sie. Wichtig sei jetzt, als Kirche zu schauen „wo wieder etwas heilsam zusammenstrebt, was zu anderen Zeiten voneinander getrennt worden ist.“

Die Kirche und die digitale Welt

Eine neue Verbindung, die sich beobachten lässt: Die Corona-Pandemie hat zu einem schnellen und starken Zusammenwachsen von Kirche und digitaler Welt geführt. Mit gestreamten Gottesdiensten, Gebetszeiten und geistlichen Impulsen werden täglich tausende Menschen erreicht, zum Teil aus kleinen Kapellen, die zu normalen Zeiten vor Ort nur wenigen Menschen Platz bieten würden. Ein Beispiel ist die Übertragung der Hl. Messe mit
P. Karl Wallner aus der missio-Kapelle, die täglich von rund 2.000 Menschen mitgefeiert wird.

Durch die Corona-Pandemie werden neue Verbindungen hergestellt: So weichen etwa Künstlerinnen und Künstler Corona-bedingt in Kirchen aus. „Die Kirche ist der einzige Raum, der uns geblieben ist“, sagte die deutsche Star-Geigerin Anne-Sophie Mutter dem „Tagesspiegel“. „Hier werden Dinge miteinander verbunden, die vorher undenkbar waren, aber dem Leben, der Liebe und dem Glauben dienen“, meint Kirstine Fratz.

„Das ist die Aufgabe von Zeitgeist, dass er uns immer wieder die Perspektive schenkt, heilsam zu verbinden, um letztendlich wieder einer Ganzheit entgegenzustreben.“ So scheint es fast, dass der Zeitgeist im Sinne von Kirstine Fratz mit der Sophia, der göttlichen Weisheit der Ganzheit, zusammenarbeitet.

Das große Versprechen, für das sich alle angestrengt haben, geriet von einem auf den anderen Tag kollektiv in Gefahr“, sagt Fratz. | Foto: iStock-golero
Kirstine Fratz ist Expertin für Zeitgeist-Forschung und gefragte Impulsgeberin für Unternehmen und Medien
 | Foto: privat
Autor:

Agathe Lauber-Gansterer aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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