Tag des Judentums: 17. Jänner
Judentum und Kirche begegnen sich auf Augenhöhe
Der anschwellende Antisemitismus in Europa bedroht auch das jüdische Leben. Gegenüber dem SONNTAG schildert der neue Oberrabbiner Jaron Engelmayer auch das Spezifische des Judentums und was einen Rabbiner von einem Oberrabbiner unterscheidet. Und wie er die Beziehung zwischen Judentum und katholischer Kirche beurteilt.
Wir treffen Oberrabbiner Jaron Engelmayer in Zeiten des Lockdown mit Mund-Nasenschutz und führen das Gespräch mit genügend Abstand im Wiener Stadttempel in der Seitenstettengasse.
Vor dem Stadttempel stehen noch viele Kerzen, die an den mörderischen Anschlag am 2. November in der Wiener Innenstadt erinnern. Der anschwellende Antisemitismus, die Zunahme der Tätlichkeiten gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger im deutschen Sprachraum sind mit ein Grund, gerade am „Tag des Judentums“ am 17. Jänner an die starke Verbundenheit zwischen Judentum und Christentum zu erinnern.
- In den letzten Monaten gab es Anschläge auf Synagogen und vermehrt tätliche Übergriffe auf jüdische Mitbürger, auch in Österreich. Steigt wieder der Antisemitismus in Europa?
Jaron Engelmayer: Dass der Antisemitismus in Europa allgemein steigt, das ist auch durch Studien sehr stark belegt. Das ist zugleich besorgniserregend, in vorderster Linie für uns als jüdische Gemeinschaft. Aber es ist auch ein besorgniserregendes Zeichen für die gesamte Gesellschaft. Denn Antisemitismus ist eine Bedrohung der Toleranz, der menschlichen Freiheit, des Zusammenlebens, des Pluralismus, den wir so sehr schätzen. Und da ist die gesamte Gesellschaft gefordert, sich dem entgegenzustellen und dagegen etwas zu tun.
- Wie sicher fühlen Sie sich in Wien?
Grundsätzlich sehe ich in Wien ein sehr gutes Zusammenleben. Auch durch die Reaktionen auf die Anschläge, die hier geschehen sind. Man sieht, die Bevölkerung ist in hohem Maße sehr solidarisch, sie ist offen. Man lebt zusammen, weil man gern zusammenleben möchte in einer pluralen Gesellschaft. Und das ist auch spürbar. Dennoch: Diese Vorfälle sagen und zeigen eines sehr deutlich, dass man nämlich vorsichtig sein muss.
- Wie würden Sie das Judentum in wenigen Sätzen erklären?
Das Judentum beruft sich auf die fünf Bücher Mose als Grundlage, welche die Ursprünge des Judentums beschreiben: Die Geschichte unserer Vorväter Abraham, Isaak, Jakob, die Geschichte, wie das jüdische Volk entstand, in Ägypten aus der Sklaverei ausgezogen ist und dann am Berg Sinai die Offenbarung Gottes empfangen hat, um von dort weiter durch die Wüste ins Land Israel zu ziehen.
Drei Besonderheiten sind beim Judentum sehr spezifisch.
- Das eine ist die Religion. Die Religion ist maßgeblich auch durch Gesetze und Gebote formuliert. Das heißt, eine ganz besondere, konkrete Beziehung, die zu Gott gepflegt wird und auch klare Strukturen und Rahmen hat.
- Das zweite ist: Es gibt ein Volk, eine Nation. Das heißt, Judentum wird im nationalen Sinne weitergegeben. Ins Judentum aufgenommen wird man nicht durch einen Akt vergleichbar mit der Taufe im Christentum, sondern man wird als Jude geboren durch eine jüdische Mutter. Zum Judentum kann man auch übertreten, die angeborene Nationalität ist nicht ausschließlich, aber in der überwiegenden Mehrheit der Fall.
- Und das dritte ist das Land Israel, das ein wichtiger Bestandteil des jüdischen Verständnisses und des Judentums ist. Das Heilige Land spielt auch in religiöser Hinsicht eine ganz große Rolle und ist auch heute wieder das Zentrum des jüdischen Volkes geworden. Fast die Hälfte des jüdischen Volkes weltweit lebt in Israel und dementsprechend ist auch vieles mit Israel verbunden, was auch die jüdische Gemeinschaft weltweit betrifft.
- Wie sieht die Ausbildung zum Rabbiner aus?
Rabbinat-Ausbildung bedeutet, dass man mehrere Jahre an einer Talmud- Hochschule studiert, zunächst mal einfach Talmud-Studien, um mit dem Wesen des Talmuds vertraut zu sein, um die Inhalte zu verstehen, um sich auszukennen. Daran anknüpfend folgt dann das spezifische Rabbinat-Studium, welches sich vor allem mit den Religionsgesetzen auseinandersetzt, also die verschiedenen Bereiche, die im Alltag besonders zur Geltung kommen, wo sich ein Rabbiner besonders auskennen muss.
- Welche Aufgaben hat ein Rabbiner?
Als Rabbiner hat man sehr vielseitige Aufgaben. Es geht darum, eine Gemeinde spirituell und religionsgesetzlich zu leiten, festzulegen, welche Linie eine Gemeinde einzuhalten hat. Es gibt Fragen des Religionsgesetzes, es gibt die seelsorgerische Seite. Man kümmert sich um die Gemeindemitglieder, man begleitet sie in den verschiedenen Lebensstationen, von der Geburt bis zum Tod. Und da sind dann auch die Familienfeiern. Man trifft die Gemeindemitglieder in der Synagoge, beim Gebet, stärkt sie durch den Lehrauftrag, den ein Rabbiner hat: Wissen zu vermitteln, jüdische Identität zu stärken.
- Und was genau macht dann ein Oberrabbiner?
Ich bin nicht dem Oberrabbiner Israels unterstellt oder einem anderen Oberrabbiner und auch andere Rabbiner sind es nicht. Eine Gemeinde unterstellt sich in spiritueller Hinsicht dem Rabbiner. Das heißt, sie entscheidet sich für einen Rabbiner. Und dann ist der Rabbiner auch zuständig für die Weisungen und Lehre innerhalb dieser Gemeinde, welcher Auslegung des Religionsgesetz man folgt, wie Fragen entschieden werden.
Ich war beispielsweise als Gemeinde-Rabbiner für die Gemeinde in Aachen oder in Köln zuständig und habe dort auch die Richtung, die Linie vorgegeben. In Wien gibt es nur eine Gemeinde, die IKG. Die Synagogen sind in Synagogenvereinen organisiert. Es gibt viele Synagogen und viele Ausrichtungen, viele Rabbiner und jede Synagoge und jeder Verein entscheidet sich für ihren eigenen Rabbiner. Aber die Gesamt-Gemeinde hat dann oft einen Oberrabbiner – wie hier in Wien.
Der Oberrabbiner vertritt die Gemeinde nach außen in spirituellen jüdischen Fragen. Er legt auch für die gesamte Gemeinde die Linie fest. Aber was die einzelnen Synagogen betrifft, dort wird sich der Oberrabbiner nicht einmischen, weil jede Synagoge ihre eigene Linie hat und ihren eigenen Rabbiner, ihre eigene Auslegung der Religionsausübung.
- Wie beurteilen Sie das Verhältnis, die Beziehung zwischen Judentum und katholischer Kirche?
Ein ganz großer Einschnitt in der Beziehung zwischen Judentum und katholischer Kirche ist vor gut 55 Jahren mit der Konzils-Erklärung „Nostra aetate“ geschehen, welche eine klare Kehrtwendung der katholischen Kirche im Zugang zum Judentum abgesteckt hat, und zwar durch die Anerkennung, dass das Judentum auch ein Heil in sich trägt, dass Juden-Mission dementsprechend nicht richtig ist. Und das hat dazu geführt, dass sich das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum von Grund auf geändert hat und eine ganz andere, erfreuliche Richtung einschlägt.
Es ist eine sehr gute Zusammenarbeit entstanden, die inzwischen auf eine große Vertrauensbasis zurückgreifen kann, aus dem Ansatz heraus, dass man sich auf Augenhöhe begegnet, dass man gemeinsam Dinge angeht, in Anerkennung der Unterschiedlichkeiten beider Religionen.
Heute geht es darum, diesen richtungsweisenden Ansatz der letzten Jahrzehnte auch an die Basis zu vermitteln, zu den Gläubigen, dass Aufklärung betrieben wird, dass die Gläubigen das aus erster Hand mitbekommen.
Autor:Stefan Hauser aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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